Von Hubertus Heidloff

Wie an jedem Abend saßen die beiden am Tisch und hatten ihr karges Mahl vor sich aufgebaut. Seit dem Ende des großen Krieges, der jetzt schon einige Jahre vorbei war, hatte sich an dieser Zeremonie nichts geändert. Für jeden gab es eine Scheibe Brot mit dünnem Käseaufstrich, dazu eine Tasse mit aufgebrühtem Pfefferminztee. Das Brot war schon einige Tage alt, die Kruste wurde unangenehm hart und war deshalb ganz kurz in lauwarmes Wasser getunkt worden. Aber trotz der geringen Auswahl an Lebensmitteln nahmen die beiden alten Leute das Abendessen mit Dankbarkeit an. Bei frisch gekauftem Brot segnete es die Frau, indem sie auf der Rückseite mit dem Messer einen kaum wahrnehmbaren Einschnitt in der Form eines Kreuzes zeichnete.  Auch bei dem Laib von heute war es so geschehen, als sie es beim Kaufmann von nebenan abgeholt hatten. Manchmal hatten sie Glück, wenn sie das Brot der letzten Tage geschenkt bekamen. „Das war heute ein schwerer Tag“, brummte der alte Mann kaum verstehbar vor sich hin. Er saß am Tisch, mit gekrümmtem Rücken, fast weißen Haaren, die aber immer noch voll seinen Kopf bedeckten und ihm das Aussehen eines Menschen verliehen, der in jungen Jahren das Leben genossen hatte und nun auf seine alten Tage mit seinem schlohweißen Haar mit diesem Leben zu hadern schien.  Auch an den tiefen Falten in seinem Gesicht war zu erkennen, dass es ihn geprägt hatte. Er hatte im großen Krieg bei der Marine gedient und war somit in vielen Häfen gewesen. Dort gönnten sich die Soldaten ein klein wenig Abwechslung von der Alltagsangst, die sie befiel, sobald das U-Boot wieder klar zum Auslaufen war. Jedes Mal war es die gleiche Angst, unterzutauchen, von Minen oder Bomben getroffen zu werden und nie wieder das Tageslicht sehen zu können. Als der Krieg zu Ende war, hatte er das ganz große Glück gehabt, dass sein Boot von feindlichen Geschossen verschont geblieben war. Er konnte in seine Heimat im Sauerland zurückkehren, wo er seine Kindheit verbracht hatte. Seine Eltern waren nicht sonderlich mit Reichtümern gesegnet, aber sie hatten ihr Auskommen und dadurch, dass kaum ein Mensch in seinem Dorf mehr besaß als ein anderer, war ein gemeinsames Leben in Armut zu ertragen gewesen.

Die tägliche, stündliche Angst war ihm geblieben und sollte ihn sein Leben lang begleiten. Schon bei entferntem Gewittergrollen zuckte er zusammen. Das Geräusch erinnerte ihn an eine Bombe, die das Boot getroffen hatte, am Rumpf, ohne zu zünden und vom Boot abgerollt war. Die Besatzung hatte Glück und war vor dem Untergang bewahrt worden. Immer wieder kam ihm diese Situation auch noch nach vielen Jahren ins Bewusstsein und ließ ihn jede Art von dumpfen Geräuschen wahrnehmen und so die Erinnerung lebendig werden lassen. Zu sehr hatte sich jenes Erlebnis in seinem Kopf eingenistet. Er war mit seinen Empfindungen allein, denn kein anderer seiner Kameraden kam aus dem kleinen, verlassenen Winkel im Sauerland. Das war ja auch eher selten, dass es eine Landratte wie ihn zur Marine verschlagen hatte. Er konnte sich somit mit keinem Menschen über seine traumatischen Erlebnisse austauschen. 

Seiner Frau, die er kurz nach dem Krieg geheiratet hatte, wollte er nichts erzählen, um sie nicht mit solchen Begebenheiten zu belasten. Natürlich spürte sie, dass ihn irgendetwas bedrückte, doch jedes Mal wenn sie ihn fragte  –  er nannte es aushorchen wollen –  wich er ihren Fragen aus. Vielleicht, so fragte er sich manchmal, wäre es besser gewesen, sie von Beginn an teilhaben zu lassen an seinen Ängsten. Doch sobald dieser Gedanke vor ihm auftauchte, schob er ihn auch schon wieder beiseite. Die Frau, mittlerweile auch betagt, hatte sich etwas von ihrer feinen Art, die sie als junges Mädchen gehabt hatte, bewahrt. Ihre Haare trug sie zusammengeschlagen und mit einigen Klammern am richtigen Ort festgesteckt fast wie einen Turban auf dem Kopf. Trotz ihres Alters zeichneten nur winzige Fältchen ihr Gesicht, welches somit fast jugendlich erschien. Nur an ihrem Gang konnte man das Alter erahnen.

Die Schultern trug sie gerade, wobei sie sich immer wieder an einen Satz ihrer Mutter erinnerte, die ihr einmal gesagt hatte: „Geh gerade, nimm die Schultern zurück!“ Der Satz hatte bei ihr auch eine andere Bedeutung gewonnen. „Geh gerade“ verstand sie als aufrecht durch das Leben gehen. Gewissermaßen war dies zum Lebensmotto geworden. Sie, die aufrecht gehende und ihr Mann, der gebeugte, hatten sich gefunden und so stützte sie ihren Mann und er genoss es, eine starke Frau zu haben. Ihre Hände hatte sie gepflegt, obwohl die harte Arbeit auf dem Lande etwas anderes vermuten ließ. Sie verdiente sich ihr Brot als Arbeiterin auf dem Hof des „reichsten“ Mannes im Dorf. Des Abends, wenn sie nach Hause kam, machte sie sich in einem Topf etwas Wasser warm, zerbröselte ein Stück Kernseife darin und badete dann für einige Minuten ihre Hände im lauwarmen Sud. 

„Das war heute ein schwerer Tag“, wiederholte der Mann seinen Satz, nachdem sie nicht darauf reagiert hatte. 

„Was war los?“ wollte sie nun wissen.

„Es kamen Männer zu mir an den Arbeitsplatz und wollten wissen, in welcher Funktion ich auf dem U-Boot gearbeitet hätte. Sie sagten, aus Dokumenten sei ersichtlich, dass ich verantwortlich gewesen sei für die Erschießung von Deserteuren in vielen Häfen.“

Der Frau stockte der Atem.  Im Moment drehte sich alles in ihrem Kopf: Ihr Mann, ein Mörder? 

Nach einiger Zeit gewann ihr realistisches Denken wieder die Oberhand. 

„Was haben sie sonst noch gesagt?“ „Ich darf den Ort nicht verlassen und soll mir einen Anwalt nehmen!“ „Woher sollen wir denn einen Anwalt nehmen, wir sind doch unser Leben lang fehlerfrei durchs Leben gegangen.“ 

Der Mann sackte immer mehr in sich zusammen. 

„Hast du es denn wirklich getan?“ „Ich habe nur den Befehl gegeben“, sagte er leise, ohne den Kopf zu heben. Tränen rannen über seine Wangen. „Die Zeit hat mich eingeholt. Die Vergangenheit kommt immer näher.“

In jener Nacht konnten beide kaum ein Auge zumachen. 

Am Morgen war der Mann nicht in seinem Bett. Nur einen Zettel fand die Frau auf dem Küchentisch.

„Ich muss noch mal weg“, stand dort in reichlich zittriger Schrift notiert. 

Nur wenig später hörte sie das schnarrende Klingeln an der Haustür.

 

Zwei fremde Männer standen vor ihr. Sie hatten lange dunkle Mäntel an. Ohne Umschweife kamen sie zur Sache. „Wir müssen Ihnen die traurige Nachricht bringen, dass Ihr Mann heute Morgen von einem LKW überfahren worden ist.“

 

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