Von Ursula Riedinger

Vor einer Woche war Lenas Welt noch heil gewesen. Nun sah alles anders aus. 

Sie hatte sich, wie jeden Samstagabend, das Sofatischchen im Wohnzimmer gedeckt und sich ihren liebevoll arrangierten Teller mit Stiltonkäse und englischen Crackers bereitgestellt. Dazu ein Glas Tawny. Dann hatte sie die farbigen Kissen auf ihrem lindgrünen Sofa zurechtgerückt und mit einem behaglichen Seufzer zurückgelehnt und den Fernseher eingeschaltet. Sie trug ihre dunkelgrüne Strickjacke, die Märzabende waren noch kühl. 

Grün war Lenas Lieblingsfarbe. Als sie noch jung gewesen war, hatte Grün perfekt zu ihrem rötlichen Haar gepasst. Nun waren ihre Haare grau, zu einem lockeren Knoten aufgesteckt. Aber noch immer liebte sie Grün. 

Sie lebte allein, in der gleichen Altstadtwohnung wie bei ihrer Heirat. Sie war zufrieden mit ihrem Leben. Kam mit dem Leben auch als ältere Frau gut klar, konnte man sagen. Sie blickte auf ein interessantes Leben zurück. Seit sie alleine war, hatte sie gelernt, sich kleine Freuden zu gönnen, wie die Fernsehabende mit Portwein und Stilton. Das hatte sie in England kennengelernt, als sie schon in fortgeschrittenem Alter Englisch gelernt und bei einem netten älteren Ehepaar gewohnt hatte. An diesem Abend passte ihr jedoch gar nichts, was gerade so lief. Den Krimi hatte sie schon mal gesehen, die Komödie war ihr zu überdreht. Und wie all die perfekt gestylten Leute in diesen Filmen sprachen, wirkte immer etwas gestelzt. Also schaltete sie den Fernseher wieder aus und las sich quer durch den «Beobachter», während sie sich ab und zu ein Häppchen Stilton und einen Cracker in den Mund steckte und einen Schluck Portwein trank, so dass das Vergnügen möglichst lange anhielt. Mit Interesse las sie die Reportage über vier Auswandererpaare oder -familien, die ihr altes Zuhause hinter sich gelassen hatten, um im Ausland etwas Neues aufzubauen. Sie bewunderte den Mut dieser Menschen. 

Ab und zu hatte auch sie von einem Neuanfang an einem anderen Ort geträumt, aber je älter sie wurde, desto weniger realistisch erschien ihr ein solcher Schritt. Sie seufzte und lehnte sich nachdenklich zurück, den «Beobachter» immer noch aufgeschlagen auf ihren Knien. Es gab nichts, das sie zurückhielte. Es gab niemanden, vor dem sie davonlaufen wollte, nicht mehr, seit ihr lieber, aber nicht sehr abenteuerlustiger Walter gestorben war. Udo Jürgens träumte von New York, brach dann doch nicht aus. Auch Lena war noch nie in New York gewesen, auch nicht auf Hawaii. Aber es gab schon Orte, die ihre Augen jedes Mal zum Leuchten brachten, wenn sie Bilder davon sah. Istanbul oder Jerusalem waren solche Orte. Gerne hätte sie auch mal einen bläulich schimmernden Eisberg von nahe gesehen oder wäre in der Südsee ins lauwarme Wasser gewatet. Im Gegensatz zu Udo besang Sina, wie sie vom Meer träumte und es dann auch tat, losfuhr und ihren unaufmerksamen, unselbstständigen Mann einfach zurückliess. Im Lied wenigstens. Am Meer war sie schon oft gewesen, hatte schöne Erinnerungen an Heringsdorf, wo sie mit Walter mal gewesen war, bevor er erkrankte. Auch an Zakynthos, wo sie mit einer Freundin, nach Walters Tod, schöne Tage am Meer verbracht hatte. Die Sehnsucht nach dem Meer konnte sie verstehen, das Meer war immer einzigartig. 

Doch heute, eine Woche danach war ihr Leben auf den Kopf gestellt worden. Gestern hatte sie den ärztlichen Bescheid erhalten. Die Krankheit, die sich heimlich bei ihr eingenistet hatte, konnte mit Medikamenten eingedämmt, aber nicht aufgehalten werden. Ihr Hausarzt wollte keine Prognose abgeben, aber er nannte dann doch eine Zeit – ein halbes bis ein Jahr, vielleicht auch zwei. Ihre Welt brach zusammen. Sie liess sich gehen, hing ihre Gedanken nach und kam doch zu keinem Schluss. Warum? Und dann keimte eine kleine Hoffnung in ihr, wie ein zartes grünes Pflänzchen. Und Lena beschloss, die Hoffnung anzunehmen, das Beste daraus zu machen. Jetzt wurde ihr klar, dass sie nochmals verreisen wollte.

Eine Woche später betrat Lena das Reisebüro am Platz, wo man sie kannte, und liess sich beraten. Istanbul, Jerusalem, Isfahan, Kyoto. Jeden dieser Orte wollte sie mit einem privaten Führer besuchen und dabei immer genügend Zeit haben, um sich alles anzuschauen, die Gerüche einzuatmen, die Farben auf sich wirken zu lassen und dabei auch ein paar schöne Fotos zu machen. Fotos hatte Lena schon lange keine mehr gemacht. Als alles unter Dach und Fach war, die Flugtickets vorlagen, ging es ans Packen. Lena wollte mit leichtem Gepäck reisen. Als Abschluss hatte sie eine entspannende Ayurvedabehandlung und ein paar ruhige Tage am Meer auf Sri Lanka gebucht. 

***

Als Mia und Selina den Schlüssel drehten und seit langem zum ersten Mal wieder die Wohnung ihrer Tante Leni betragen, voller Respekt und Scheu, fanden sie auf dem Tisch das Reisetagebuch ihrer Tante. Daneben ein Fotoalbum mit dem Titel «Meine letzte Reise». Die beiden schauten sich an und wischten sich eine Träne aus dem Auge. Dann sahen sie auch den Brief, den ihre Tante ihnen geschrieben hatte.

«Liebe Mia, liebe Selina,
Ich möchte euch beiden mein Reisetagebuch und das Album meiner letzten Reise anvertrauen. Darin habe ich all meine Eindrücke und Gedanken notiert, die mir auf dieser Reise gekommen sind. Behaltet mich in eurer Erinnerung und profitiert voll vom Leben.»

Zuerst schauten sie sich das Album an, beugten sich beide über das Buch. Ihre Tante hatte wunderschöne Bilder gemacht, die Hagia Sophia, den Basar, den Felsendom … Immer gab es auch ein Bild von Tante Leni, die lächelnd in die Kamera blickte. Vor dem Tor der Freitags-Moschee, in einem Tempel in Kyoto und am Schluss ganz entspannt am Meer, in ein buntes Tuch gehüllt, im Hintergrund Palmen im Wind. Die Mädchen schauten sich an. 

«So eine schöne Reise.»

Selina nahm das Reisetagebuch zur Hand begann Mia vorzulesen. So spannend, was Tante Leni geschrieben hatte, sie fühlten sich ihr so nah wie schon lange nicht mehr. Sie hatte über ihre Beobachtungen, über Begegnungen und über ihre Gefühle geschrieben. Sie spürten, wie intensiv und farbig Lenas Reise gewesen war. 

«Danke, Tante Leni.», flüsterte Mia, als sie die Wohnungstüre hinter sich zuzogen.

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