Von Saskia Wyss

Ich sitze auf der Bettkante und halte einen Notizzettel mit den extrem aufschlussreichen Worten „Ich muss nochmal weg“ in der Hand. Ich zermalme mir mein Hirn in seine einzelnen Bestandteile – also ich zerbreche mir den Kopf – was das wohl bedeutet und was ich alles hätte tun müssen, damit es nicht so weit gekommen wäre. Denn es ist das erste Mal, dass er mal eben so weg ist und ein selbst beschriftetes Stück Papier hinterlässt. Der gestrige Vorfall muss ihn wohl getroffen haben; er konnte nicht warten, bis ich wach bin, um mir direkt von seiner spontanen Spritztour zu berichten. Wahrscheinlich lümmelt er jetzt irgendwo traumatisiert in der Gegend rum, obwohl die Sache gestern auf seinem Misthaufen gediehen ist. Und es ist auch nicht so, dass ich einfach aus dem Nichts mit der Motorsäge aufwarte, ohne Vorwarnung die Reißleine ziehe und die Grenze schließe, ne. Ich meine, ich gebe immer drei Chancen, aber irgendwann ist Schluss. 

 

Nun. Das allererste Mal, als er zu spät gekommen ist, oder, das war so ungefähr zehnmal eine Minute, da habe ich noch nichts gesagt. Vielleicht hatte er tatsächlich Stau – also auf der Straße, meine ich. Wie oft ist es schon auf dieser großen weiten Welt geschehen, dass man alles minutiös geplant hat, die Sekunden für die Autofahrt inklusive Puffer für einen möglichen Stau mit dem Satz von Pythagoras und einem Zirkel kurz vor der Abfahrt sorgfältig berechnet hat, und kaum ist man auf der Rennstrecke, wirft jemand ein Mammut von der Autobahnbrücke auf das Teergemisch runter; es gibt einen Unfall und zack – Stau. Das passiert. Tausendmal auf dieser Erde. Kein Wunder, dass Mammuts zu den bedrohten Tierarten zählen und bald aussterben werden. 

 

Also dann. Das erste Mal hatte er den Zirkel um zehn Minuten zu spät angesetzt. Kann vorkommen. Beim zweiten Mal verspätete er sich wieder um rund zehn Minuten. Nichtsdestotrotz war ich noch immer relativ entspannt. Pythagoras wäre da nicht so gnädig gewesen. Aber wie will ich das wissen. Lange ist es her. Aber Mammuts, die kenne ich. Auf jeden Fall hat Francis sich mit vielen Worten entschuldigt. Er meinte, schau, ich komme dich doch gerne abholen, so haben wir noch mehr Zeit gemeinsam. Klar, ich fand das richtig süß und schmalzig und zerschmelzend, verzieh ihm seine prähistorischen Allüren und fügte hinzu, wir hätten sogar noch mehr gemeinsame Zeit, wenn er manchmal pünktlich kommen würde, aber das verstand er nicht; so musste ich über meinen Wortwitz alleine lachen, was die gemeinsame Lachzeit nicht im Geringsten vergrößerte. Tja.

 

Die nächsten Male war er dann zwischendurch wieder pünktlich; positiv bestürzt aufgrund seiner plötzlichen Pünktlichkeitslaune dachte ich mir, wow, okay, Mammuts gibt’s wohl echt nicht mehr, die haben uns in der Schule doch keinen Bären aufgebunden, und war fast schon ein bisschen stolz auf Francis. Andererseits musste er auch nirgends hinfahren, weder zu mir noch sonst irgendwo hin; ich bin jeweils direkt zu ihm nachhause gefahren. 

Er schien mächtig unter Zeitdruck zu stehen; ich wollte ihm das Leben nicht noch schwerer machen; mir waren diese Mammutgeschichten recht ungeheuerlich – ich wollte ihn und sein „Baby“ – wie er seine Blechdose auf vier Rädern nannte – nicht unter einem Riesenelefanten mit Fell hervorziehen und dann zugeben müssen, dass es nicht schlimm gewesen wäre, wenn er schon wieder zu spät gekommen wäre, Hauptsache, er wäre lebendig gekommen, so lebendig wie das Mammut, bevor es jemand – wer eigentlich? – von der Brücke runtergeschmissen hatte. 

Unter diesen Pünktlichkeiten war er einmal so zackig auf den Punkt, dass er gar nicht erst aufgetaucht war. Terminkarambolage. Da konnte er halt nichts mehr machen. Die Beerdigung war obligatorisch. Ich fragte mich, ob man schon Trauerfeiern für Mammuts macht, habe aber weder etwas gesagt noch mich aufgeregt, weil über so was macht man sich nicht lustig und nicht aufregig; gut möglich, dass sie sich sehr nahestanden. Immerhin hatte er sich bei mir mit Blumen entschuldigt – wahrscheinlich hatte er diese von der Beerdigung mitgebracht – was er nicht einmal an meinem Geburtstag gemacht hatte; an diesen hatte er auch in etwa zeitig gedacht, und eine Entschuldigung war unnötig; außerdem wären da solche Erdblumen unangebracht gewesen. 

 

Gestern jedoch war erneut das Mammut – ich meine, der Moment – gekommen des Wieder-am-Bahnhof-abholen-kommen-mit-Babyschleppe. Als jedoch nach fünfzehn Minuten noch kein Francis da war, fragte ich bei ihm nach, wo er denn bleibe. Nach ein paar langen Sekunden blinkte seine Antwort auf; er schrieb, es dauere noch fünf Minuten. Als diese angekündigten fünf Minuten um waren, und ich kein Babygeräder sah – also schon welches, aber nicht seines – schrieb ich wieder, wo er denn bleibe. Dann er wieder: in fünf Minuten. Meine mathematischen Fähigkeiten bescheinigten mir, dass mir eben nach diesen fünf Minuten noch weitere fünf blieben, bis die erste halbe Stunde Wartezeit ihr Stündchen geschlagen hat. Irgendwann ging sein Zeitplan auf, und er war tatsächlich fünf Minuten nachdem er mir geschrieben hatte, er sei in fünf Minuten da, am Bahnhof – wobei ich mich dabei gefragt habe, wie er bis hierhin gefahren war, wenn er mir alle fünf Minuten geschrieben hatte, er sei in fünf Minuten da. 

 

Als ich mich in sein Auto gesetzt habe, fragte ich natürlich als Erstes, was er denn so lange gemacht hätte. Er meinte, er musste duschen und das ging irgendwie länger und außerdem war da noch Stau. Das mit dem Stau kannte ich ja so langsam. Hingegen das mit dem Duschen war mir neu. Also nicht, dass er nie duschte, aber dass er so lange brauchte, um zu duschen. Vielleicht werden Mammuts neustens in Badezimmer geschmissen, damit die auch duschen können, bevor sie auf der Autobahn landen. Dann muss man erst mal das Mammut duschen, dann dieses wieder aus dem Bad rauskriegen, das Bad danach auf Vordermann bringen, und schließlich selbst duschen – das dauert. Kann ich nachvollziehen. Dafür ist eine halbe Stunde eigentlich fast schon ultraschnell. Auf jeden Fall fand er mein Verständnis für seine Tierliebe nicht so lustig. Der Abend war natürlich im Eimer beziehungsweise irgendwo auf der Autobahn liegengeblieben, wahrscheinlich unter einem Mammut. 

 

So. Und jetzt sitze ich da mit diesem Gekrackel von Schrift. Was macht er denn? Irgendwann muss er zurückkommen, ist ja seine Wohnung. Vielleicht ist er gerade auf Mammutjagd. Würde er in Zukunft öfter solche Drohbriefe schreiben? Ich meine, wie stellt er sich das vor? Denkt Francis etwa, er kann einfach solche Alphabet-Elemente in totes, glattes Holz kratzen, das er, wenn er zu spät kommt, mitbringt, und sagen kann, schau, hier ist der Beweis, ich musste halt nochmal weg, oder, da konnte ich nichts machen, im Grunde genommen bin ich nicht zu spät gekommen, sondern eben, ich musste nochmal weg. Ich betrachte den Zettel noch eine ganze Weile. Mal überlegen. Ich schlurfe ins Zimmer nebenan zu seinem Schreibtisch, nehme einen Kugelschreiber aus dem Etui, wende den Zettel so, dass die leere Seite nach oben zeigt, und schreibe „Tschüss“. Ich ziehe mich an, packe meine paar wenigen Sachen, die ich bei ihm eingelagert habe, lege den Zettel sowie den Wohnungsschlüssel auf den Küchentisch und lasse die Eingangstür ins Schloss fallen.