Von Agnes Decker

Sie haben ihn gefunden. Ich habe es in der Zeitung gelesen. Ich wusste sofort, dass er es ist. Obwohl sie seinen Namen nicht genannt haben. Am nächsten Tag brachten sie sein Foto. Ich hätte ihn nicht gehen lassen sollen. Jetzt ist es zu spät.

Ich muss nochmal weg, sagte er, bevor er sich durch die Menschenmenge drängte. Am Ausgang drehte er sich um und winkte mir zu. Ich habe gewartet, gehofft, dass er zurückkommt. Habe mich auf das Mäuerchen gesetzt, das den Biergarten von der Straße trennt. Dorthin, wo ich mit ihm gesessen hatte, zuletzt. Einiges getrunken hatten wir beide, er etwas mehr als ich. Sonst lasse ich mich nicht auf Betrunkene ein, aber er war anders. So eine richtig ehrliche Haut, so sagt man doch. Zumindest habe ich das so empfunden in dieser Nacht.

Ich hatte eigentlich nicht weggehen wollen. War schon früh ins Bett. Dann packte mich diese innere Unruhe, konnte mich nicht konzentrieren aufs Lesen. Samstagabend, und ich hier alleine in meinem Bett und mit diesem Buch, das mich eigentlich gar nicht interessierte. Ich war aufgestanden und hatte mich angezogen. Nichts Besonderes. Nur Jeans und ein schwarzes Shirt mit V-Ausschnitt, nicht tief. So, als wolle ich bloß nicht auffallen. Und so war es ja auch. Nur irgendwo unter Leuten sein, nicht alleine, danach war mir.

Bin mit dem Fahrrad zu der Kneipe gefahren, in der ich früher so oft und jetzt schon lange nicht mehr gewesen bin. Vor der Tür standen junge Leute mit Gläsern in den Händen, redend, gestikulierend. Ich kam mir plötzlich komisch vor, so alleine. Überlegte, ob ich wieder gehen sollte. Bin dann aber doch rein, vielmehr, habe mich durch die Masse von Leibern gewunden bis zur Theke und mir ein Bier bestellt. Zum Lockerwerden. Dann bin ich mit dem Glas in der Hand zur Bar, die neben der Tanzfläche ist. Total blöd, hätte ich auch dort bestellen können, das Bier. Aber ich fühlte mich besser so, als wäre ich schon länger hier. Die Musik war gut. Ich bekam Lust, mich zu bewegen. Da stand er plötzlich neben mir. Schaute mich an. Mir sind seine Augen aufgefallen, die hatten so etwas Ehrliches. Aber vielleicht habe ich mir das auch nur eingebildet, oder ich denke rückblickend, dass ich es so empfunden habe. Ist ja auch egal. Auf jeden Fall fühlte ich mich zu ihm hingezogen.

Ich stellte das Glas auf einem der Stehtische ab und ging zur Tanzfläche. Was für ein Unsinn, wegzugehen, obwohl ich ihn doch kennenlernen wollte. Aber, so bin ich nun mal. Vielleicht bin ich deshalb schon so lange alleine. Weil ich es immer falsch mache. Nur, damit er nicht denkt, ich wolle etwas von ihm, bevor er klar gemacht hat, dass er etwas von mir will.

Das farbige Licht warf einen Weichzeichner auf sein Gesicht. Er sah schön aus, wie er da stand und mich nicht aus den Augen ließ. Die ganze Zeit nicht. Aber er ist auch nicht zu mir gekommen.  Mir ist warm geworden, vom Tanzen und von seinen Blicken. Der Schweiß ist mir über den Rücken gelaufen, scharf, stechend, und zwischen meinen Brüsten. Selbst mein Gesicht war nass. Bestimmt auch noch rot, und außerdem waren die Haare ganz feucht. Dann kringeln sie sich, was ich überhaupt nicht mag. Deshalb bin ich von der Tanzfläche runter und zurück zu dem Stehtisch, an dem er jetzt stand und mich angrinste.

„Ich hole dir ein neues. Der Kellner hat dein Glas gerade mitgenommen“, sagte er und verschwand. Kurze Zeit später kam er zurück und brachte zwei Biere mit.

„Danke“, habe ich wohl mehr gestammelt, als gesagt, und mein Glas halb leer getrunken. Ich hatte halt Durst nach der ganzen Tanzerei.

„Na, du hast aber einen guten Zug“, sagte er und ich weiß noch, dass ich gedacht habe: Hoffentlich fragt er nicht, ob ich alleine da bin. Aber das hat er nicht gefragt. Er hat gar nichts mehr gesagt, nur getrunken und mich immer wieder angeschaut. Es war ja auch so laut, die Musik und die ganzen Menschen. Wir hatten beide unsere Gläser schnell leer, ruck zuck, in großen Schlucken. Er ist nochmal los, hat neue geholt. Später haben wir an der Bar gestanden und uns Sätze ins Ohr geschrien. Paul hieß er, wohnte am Stadtrand und war alleine hier, kam regelmäßig hierhin. Ob ich auch öfter hier sei.

Er hat mich an der Hand genommen und auf die Tanzfläche gezogen. Gerade wurde ein Stück gespielt, das ich sehr mag, eines, bei dem ich mir schon oft gewünscht hatte, jemand würde es eng umschlungen mit mir tanzen. Wir pressten uns aneinander, auch als die Musik schneller wurde. Er versuchte so etwas wie einen Disco-Fox, den er ebenso wenig tanzen konnte wie ich und deshalb schnell beendete, meine Hand nahm und mich wieder mit zur Bar zog. Er bestellte noch mehr Getränke und brüllte mir ins Ohr, ob ich mit nach draußen käme, ihm wäre auch so warm. Also drängten wir uns, die Gläser hoch über unsere Köpfe haltend, durch die Menge nach draußen. Die Kälte der Nacht schlug uns entgegen und ich fröstelte.

 „Komm“, sagte er und zog mich zu dem Mäuerchen, das bekannt als Ort für verliebte Pärchen ist. Vielleicht glaube ich das auch nur, dass sie verliebt sind, meine ich, weil ich es noch nicht erlebt habe, es mir aber so vorstelle, oft davon geträumt habe. Vielleicht sind sie ja auch nur zusammen für diese eine Nacht.

Wir setzten uns nahe nebeneinander. Ich spürte seine Wärme durch meine Jeans, legte den Kopf auf seine Schulter. Einfach so. Vermutlich, weil ich mittlerweile ziemlich angetrunken war. Er roch nach Alkohol und nassem Moos. Ich kuschelte mich in seine Wärme, als er den Arm um mich legte. Jetzt küsst er mich, dachte ich und spürte, wie meine Beine zitterten. Doch er stand auf und sagte, dass er nochmal wegmüsse. Ich solle auf ihn warten. Danach habe ich ihn nicht mehr gesehen.

 

Und jetzt hat man ihn gefunden. In einem Gebüsch. Am Straßenrand. Gottseidank hat er noch gelebt.  Wenn der Autofahrer, der ihn fand, nicht dringend hätte pinkeln müssen, würde Paul vielleicht immer noch dort liegen. Der Mann hat sofort einen Krankenwagen und dann die Polizei gerufen.

Ich hätte ihn aufhalten müssen, ihn fragen, wohin willst du, Paul, so betrunken und mitten in der Nacht.  Hätte sagen müssen, dass er bleiben soll. Aber das macht man ja nicht, man drängt sich doch nicht auf, wenn jemand gehen will. Und trotzdem hätte ich genau das tun sollen.

Was er wohl dort gewollt hatte, auf der einsamen Landstraße, weit weg von seinem zu Hause am anderen Ende der Stadt? Nichts war dort, wo man ihn fand, nichts, außer Wald, die nächsten Häuser weit entfernt. Ob er jemanden treffen wollte? Ob es vielleicht um Drogen ging? Aber so sah er nicht aus. Und das hätte er auch woanders erledigen können. In der Nähe der Kneipe wurde gedealt, das hatte ich oft genug gesehen. Männer standen da rum, telefonierten, rauchten.  Plötzlich ging jemand  zielgerichtet auf sie zu, streckte die Hand aus, bekam etwas hineingelegt, worauf er es blitzschnell in der Jackentasche verschwinden ließ, um dann etwas in die nun von dem anderen ausgestreckte Hand zu legen und schnell weg zu gehen.

Also, dafür hätte er nicht so weit weg gehen müssen. Vielleicht wollte er ja noch jemanden besuchen. War verabredet und ich war ihm dazwischengekommen. Denn irgendetwas muss er doch vorgehabt haben auf dieser Landstraße, mitten in der Nacht.

Er war wohl zu Fuß unterwegs gewesen. Ein Auto soll ihn erfasst, mitgeschleift haben. Wollte jemand einen Unfall vertuschen?  Oder war das Ganze woanders passiert und man hatte ihn dort, wo man ihn fand, hingebracht? Hatte man ihn zusammengeschlagen und weggeschmissen? Aber warum nur?

Jedes Mal, wenn ich die Eventualitäten im Kopf hin und her wälze, verwirren sich meine Gedanken. Ich finde keinen vernünftigen Grund, warum und wie er, so betrunken wie er war, in diese abgelegene Gegend gekommen ist.

Auf jeden Fall hätte ich ihn zurückhalten sollen, dann wäre das alles nicht passiert. Ob er geblieben wäre? Vielleicht hatte er ja genug von mir gehabt und weggewollt? Hatte sich in seinem betrunkenen Zustand verirrt? Ich müsste zur Polizei gehen, eigentlich. Aber was sollte ich ihnen sagen? Dass er mich fast geküsst hätte und kurz, bevor es geschah, wegging? Seinen Namen und wo er wohnt, könnte ich noch sagen. Habe seine Adresse gegoogelt, er hat nicht gelogen, es gibt einen Paul Krämer im Lindenweg 92. Aber das wissen sie bestimmt schon.

 

Meine Hand zittert, als ich die Klinke herunterdrücke. „Ja, er ist wach und darf Besuch haben“, hatte die Schwester gesagt und mir die Zimmernummer genannt. Wenn sie nicht erwähnt hätte, dass es das Bett am Fenster sei, hätte ich ihn nicht erkannt, beide Arme und der Kopf in weißen Verbänden, nur das Gesicht schaut heraus.

„Wollte mal schauen, wie es dir geht“, bringe ich mühsam heraus. Dabei hatte ich eigentlich sagen wollen, wie schön ich es finde, dass er noch lebt. Ich sage selten das, was ich möchte. Meistens fällt es mir erst später ein. Dann führe ich die versäumten Gespräche in Gedanken, wieder und wieder.

„Super, ging nie besser.“ Er versucht ein Grinsen, das ihm aber nicht richtig gelingt. Vielleicht hat er Schmerzen oder ist verlegen, weil er mit mir überhaupt nicht gerechnet hat.

Vorsichtig legt er seine verbundene Hand auf meine und schaut mich an. Mit diesen Augen, die immer noch so ehrlich aussehen. Lange Zeit schweigen wir und schauen uns nur an.

„Schön, dass du gekommen bist“, sagt er schließlich, und, während ich noch überlege, was ich erwidern könnte, kommt die Schwester ins Zimmer und meint, dass es fürs erste genug sei.

„Bis dann“, murmele ich, ziehe meine Hand unter seiner weg und stehe schnell auf, winke ihm noch einmal zu, so wie er mir an dem Abend gewunken hatte, und verlasse den Raum.

Draußen fällt mir ein, dass ich vergessen habe, ihn zu fragen, wo er denn hingewollt hatte, als er sagte, dass er noch einmal wegmüsse.

Morgen, morgen werde ich wiederkommen und ihm sagen, dass es mir leid tut, dass ich ihn nicht gefragt habe, ob er Schmerzen hat und was passiert ist in dieser Nacht,  und all das, was ich sonst noch alles nicht gesagt habe. Und zur Polizei gehe ich auch.

Morgen. Vielleicht.

 

Version 3