Von Bernd Kleber

                                                                                                             Für Almut † und Christiane

Er sah auf die gelb perlende Flüssigkeit, die sich da sprudelnd vor ihm ins Urinal ergoss. Wie Gold glänzten die Perlen und das Sonnenlicht brach sich darin, welches neugierig durch das angekippte Fenster spähte. Er träumte.
Der Strahl verdunkelte sich und färbte sich rubinrot. Seine Beine wurden weich, sein Atem ging schneller. Er stellte das rechte Bein aus, um sicherer zu stehen. Keine Schmerzen! Nur ein glutrotes Rinnsal, als liefe alle Flüssigkeit aus seinem Körper, als sähe er das Rinnsal von gestern Abend erneut.
Dann ein Stich in die rechte Seite, handbreit unter den Rippen und er sackte zusammen. Kalter Schweiß auf seiner Stirn, stoßartiges Atmen. Ihm war, wie die letzte Minute zu leben.

Als er die Augen wieder öffnete, standen Leute um ihn und riefen. Sie hielten ihm Kopf und Hand. Die Schmerzen in der Seite schnitten heftig. Offenbar war sein Nierenstein gewandert, nicht abgegangen.
Er setzte sich stöhnend auf. Es war keine Kolik, nur ein andauernder schneidender Schmerz. Vielleicht würde viel Wasser trinken helfen. Mit den Armen ruderte er sich aus helfenden Händen frei und betonte, alles sei gut. Bloß nicht auffallen.
Die Menschen, die sonst keinen Blick für ihn hatten, spielten sich nun alle im Wettstreit vereint in die erste Reihe. Jeder eine Hauptrolle. Einige hielten Handys auf ihn.
Er stand auf.
„Es geht schon, danke!“
„Wirklich?“, fragte eine Frau mit zusammengekniffenen Augen, beugte sich dabei ganz dicht.
„Ja, wirklich, ich bin nur kurz schwach geworden vor Schreck. Ich habe einen Nierenstein, der wandert und ritzt manchmal ein Gefäß auf. Zum Glück keine Kolik. Eine Zertrümmerung kommt bald in Frage.“
„Aha“, sagte jemand und flüsterte etwas zur Seite, seiner Begleitung zu.
„Ach darum“, sagte die Dame, die ihre Augen verschmälerte, wenn sie prüfte.
Er verstaute sein noch frei liegendes Glied und wankte aus der Toilette. Erste Station der Kreisklinik, Urologie… wie passend. Er hatte eben ein Gespräch über seinen Untermieter geführt, diesen kleinen Kiesel, der sich rechts eingenistet hatte und ein Eigenleben führte. Der Urologe hatte gemeint: „Der geht eines Tages von selbst ab, ist ganz klein.“
Kleines spitzes Biest.
Nach dem Gespräch hatte er auch wieder ein Rezept erhalten, viele Medikamente.

Auf dem Weg zur Treppe hörte er die Stimmen, die seit gestern wisperten. Er schnaufte.
Langsam ging er die Treppe hinab. Das Getuschel verfolgte ihn.
Da der Ausgang! Schnell an die Luft! Tief einatmen.
Dann zum Auto. Hineinsetzen, Tür zu. Eigenes Reich! Stille! Die Sonne heizte. Nun kniff er die Augen zusammen.
Er startete den Wagen und fuhr langsam an, das Knirschen auf dem Kies klang kraftvoll.

Zuhause angekommen, dachte er wieder an das Bächlein Blut. Jetzt zu einem Brei erstarrt, war es gestern über den Boden gekrochen, hatte sich Bahn gesucht. War seinem Schuh näher und näher gekommen.
Er hatte nur in das Gesicht geblickt. Dieser Schock in den gebrochenen Augen, ins Leere, in eine Welt, die er nicht sehen konnte. Dieser halb geöffnete Mund des Entsetzens. Alles war leblos, nur dieses Gerinne mäanderte nun vor seinem Schuh, als graulte es sich vor ihm oder wollte ihn respektvoll umfließen.
Wieder diese Stimmen!

„Komm!“
Er hielt sich die Ohren zu. Setzte sich in den Sessel am Herd und starrte ins Dunkel. Die Sonne hatte sich verzogen. Die Nacht war gekommen und legte sich über alles, wie ein feuchtes Seidentuch.
Die Stimmen verstummten nicht.

„Komm!“
Morgen würde seine Frau von der Dienstreise zurückkehren. Dieses alte Bauernhaus am Rande des Ortes war ihre Wahl gewesen. Sie sprach von Atmosphäre und Wärme. Er fühlte nur Kälte und Leere. Nichts hörte er. Keine Laterne gab es. Er war allein auf der Welt. Nur die Stimmen riefen ihn.

„Komm!“
Sein Kopf schmerzte, seine Lende stach, als stecke ein Messer darin. Er hatte fast einen ganzen Liter Wasser in großen Zügen getrunken. Laut grunzend hatte er die Schlucke im Magen versenkt, als wolle er den Schmerz ertränken und die Erinnerung an die Augen der Betroffenheit zu seinen Füßen. Wie konnte das nur passieren? Wie konnte das nur so aus dem Ruder laufen?
Er sah zu dem Körper herunter, ein fetter grün glänzender Brummer saß auf dem geöffneten Auge. Sein Magen zog sich zusammen. Nun nahm er einen tiefen Schluck aus der Flasche mit Doppelkorn.

„Komm!“
„Ruhe!“, schrie er und schlug mit der flachen Hand gegen seine Stirn. Wieder und wieder! Es klatschte heftig.
Seine Mutter stand ihm gegenüber und fragte, warum er denn so herumbrülle. Und ob er die Nachbarn wecken wolle? Er sah sie an und lachte hysterisch.
„Was willst du hier? Es gibt keine Nachbarn und du bist schon Jahre im Jenseits.“
Seine Mutter wurde blass, mit geweiteten Augen blickte sie ihn an. Dann wurde sie blasser, diffus, ätherisch löste sie sich in Luft auf.

„Komm!“
„Haltet doch mal die Schnauze, Ihr Arschlöcher!“, spie er nun.
Wie kamen die blöden Stimmen nur hierher, die immer nur das eine Wort riefen wie im Chor. Nicht etwa auf den Punkt, sondern es hallte und waberte nach, als würde niemand den Einsatz beherrschen und alle hoffen, dass es synchron würde.
Noch ein Hieb Schnaps. Etwas floss am Mund vorbei. Er keuchte laut auf, als das Feuer die Kehle passierte.

Wieder dachte er an gestern, als er auf den leblosen Körper am Boden sah. So schnell war Leben vergangen. Er hatte es genau gesehen, als die Augen erstarrten und stumpf wurden, wie alle Muskeln erschlafften… Widerlich! Warum? Warum nur?

„Komm!“
Er hatte auf dem kalten Terrazzo gesessen und geweint, jämmerlich geweint. Die Kälte war ihm in den Körper gekrochen, hatte Besitz vom Gesäß ergriffen, über den Bauch nach oben in die Brust gerobbt, wie ein wachsendes Pilzgeschwür hatte es sich durch Fleisch und Blutbahnen vervielfältigt. Der ganze Körper war eiskalt und dann waren die Stimmen gekommen. Erst leise flüsternd, dass er sich mehrfach umsah, wer denn da wo spräche. Wer sich ins Haus geschlichen hatte. Das Wispern hatte keinen Sinn, aber war beunruhigend, aufgeregt und gehetzt.
Er hatte immer wieder in die dunklen Ecken geschaut, fixierte und versuchte zu erkennen, wer da war, aber konnte nichts wahrnehmen. Dann hatte er sich erhoben und aus dem Schubfach eine Taschenlampe entnommen. Begleitet von mehreren kleinen Schlucken Hochprozentigem. Das machte warm.
Das Licht der Taschenlampe war in alle Ecken gehuscht, hatte an Vorhängen gezogen, war unter Sessel gerutscht, nichts. Niemand war da oder hier oder dort. Er war allein. Ganz allein.
Dann hatte er es das erste Mal vernommen, ganz deutlich:

„Komm zu uns runter!“
Wohin nur, wohin?
„Hier unten, vertraue uns total!“
Irgendwann war er eingeschlafen.
Am Morgen erhob er sich mühsam, hatte sich dann vor seinem Spiegelbild erschrocken, als er Zähne putzte. Danach war er zu dem Termin ins Krankenhaus gefahren. Das war gestern.
Nun wieder:

„Komm!“
Die Stimmen wurden immer lauter.
Jetzt stand sein Großvater vor ihm und schüttelte nur mit dem Kopf. Seine Augenhöhlen waren leer und so entsetzlich tief und schwarz, dass er Angst hatte aufgesogen zu werden. Schwarze Löcher.
„Nein, nein! Du bist ein Phantom, das kann nicht sein!“
Der Alte schüttelte verächtlich den Kopf und winkte ab, dann löste er sich auf.

„Komm!“
Seine Tante erschien. Setzte sich auf den breiten Sessel und sprach sehr schnell. Er konnte sehen, wie schnell sie ihre Lippen bewegte, wie sie gestikulierte. Er verstand aber kein Wort. Als wäre er taub geworden, sah er sie artikulieren, hörte aber nichts.
Mitten im Gespräch war sie direkt vor seinem Gesicht mit weit aufgerissenen Augen aufgetaucht und schrie: „Du Schwein!“
Dann war sie weg. Er hielt sich die Ohren zu und weinte.

„Komm!“
Warum war seine Frau auf diese Dienstreise gefahren? So etwas gab es doch früher nicht. Immer war sie um ihn. Sie war sein Segen, sein Fels. Wenn sie nicht verreist wäre, wäre das hier nicht passiert.
Er sah wieder auf die geweiteten Augen unter ihm, in dem Schädel auf den Dielen. Keine Ahnung wohin sich die dicke Fliege verzogen hatte. Sie wird doch nicht, nein, bitte nicht! Sie ist nicht in den geöffneten Mund hinein? Sein Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Er keuchte.

„Komm!“
„Wohin?“, replizierte er.
„Komm zu uns runter, sonst kommen wir hinauf!“
„Nein, nein, nein!“
Er stand auf, hielt die Flasche gegen das Licht und wusste, dieser Schluck war schnell versenkt.
Dann schritt er zur Tür. Öffnete sie und starrte in das Dunkel, welches kein Ende nahm. Kein Mond, kein Licht, nur Nichts. Er warf die Flasche in hohem Bogen hinaus. Dann hörte er es platschen. Der See war einige Schritte entfernt, acht Meter ab Terrasse. Das wusste er.
Er schlug die Tür wieder zu.

„Komm!“
„Hört auf, hört auf… ich weiß nicht, was ihr wollt. Ich kann nicht mehr!“
„Du bist so müde, komm zu uns runter. Sonst kommen wir hinauf!“
Er stand auf und machte das Radio an. Es leuchtete, zeigte Willen zu leisten, was es solle, gab jedoch keinen Ton von sich. Er drehte am Senderegler, nur Stille.

„Komm! Du wirst Dich wundern!“
Er stöhnte und öffnete eine neue Flasche Klaren. Setzte sie an und spürte die warme Glut durch seine Kehle laufen.

„Vertraue uns total!“
Er ging mit der Flasche in der Hand in Richtung der Stimmen. Irgendwo mussten diese Weiber ja sein. Er öffnete die Haustür.

„Komm!“
„Ich bin so müde… lasst mich in Ruhe!“
„Wir freuen uns darauf!“
Er drehte sich nochmal um. Riss einen Zettel vom Notizblock und schrieb: Warte nicht auf mich! Legte den auf den Küchentisch.
Dann schritt er ins Dunkle…
Aus dem Radio ertönte nun ein Song: „So müde“ von den Lassie Singers.

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