Von Miklos Muhi

Niemand wartete auf ihn, obwohl seine Ankunft immer wieder angekündigt wurde. Er setzte sich vor dem Bahnhof mit dem Rücken zur Wand auf den Bürgersteig. Nichts geschah. Die Menschen gingen an ihm vorbei und beachteten ihn nicht. Seine altmodische und oft ausgebesserte Kleider schützten ihn nicht vor der Novemberkälte. Bald fing sein Magen an zu knurren.

 

Er hätte seine Ankunft zu einem riesigen Spektakel machen können, aber das wollte er nicht. Bescheid wissen wollte er nicht nur blind all den Lippenbekenntnissen glauben, die er sich immer wieder anhören musste.

 

Er stand auf und ging auf und ab, um sich ein bisschen zu aufzuwärmen. Als sich das trübe Tageslicht sich zu verabschieden begann, wurde sein Hunger unerträglich.

 

Er ging ins Bahnhofsgebäude, um nicht im einsetzenden Nieselregen stehen zu müssen. Er ging auf eine Gruppe elegant gekleidete junge Männer, die auf einem Bahnsteig sich aufgeregt unterhielten, zu.

»Guten Abend die Herren. Bitte helfen Sie mir. Ich habe Hunger und mir ist Kalt …«, fing er an, aber er konnte seinen Satz nicht zu Ende bringen.

»Verschwinde du Penner, sonst knallt es!«, rief einer der Männer.

»Lass uns in Ruhe, du Arsch und geh arbeiten!«, sagte ein anderer aus der Gruppe.

Alle gingen ein Stück weiter und setzten ihre Unterhaltung fort. Mit hängendem Kopf nahm auf einer Bank platz.

 

Reisende kamen und gingen. Viele machten mit angewiderten Grimassen einen großen Bogen um ihn. Bald übermannte ihn den Schlaf, trotz Hunger und Kälte.

 

»Aufstehen!«

Die ungehobelte und nach Alkohol klingende Stimme riss ihn aus seinem leichten Schlaf. Vor ihn standen drei Männer, alle gleich gekleidet, mit schweren Schuhen, dicken Jacken und ohne Kopfhaare.

»Hallo. Was wollt ihr?«

»Geh zurück, wo du hergekommen bist, Kanake!«, brüllte der kleinste unter ihnen, die wohl die Führungsrolle innehatte.

»Ja, genau sonst gibt es Dresche!«, rief ein anderer.

»Was meint ihr damit? Wo soll ich denn hin?«

Der Führer der Gruppe wandte sich zu den anderen.

»Sieht ihr, der ist frech, findet ihr nicht, Kameraden?«

»Ja, das ist er«, antworteten die anderen in Unisono.

»Dann müssen wir ihn wohl Manieren beibringen. Geh zurück nach Syrien, Irak oder wo auch immer du hergekommen bist! Das ist ein Land für Arier, nicht für dunkle Scheißhaufen, wie dich! Du kommst hierher, stiehlst, vergewaltigst und besudelst unsere Sprache mit deinem Kanackenschnauze! Weg hier, los, sonst bist du fällig!«

Er stand wortlos auf und verließ den Bahnhof. Die drei brüllten ihm lachend einige Schimpfwörter nach.

 

Auf der Straße ging er ziellos umher. Seine Enttäuschung war bitter. Eigentlich hätte er mit so etwas rechnen müssen, denn das passierte immer wieder, aber die Hoffnung wollte er nicht aufgeben.

 

In einem Park traf er auf eine Gruppe heruntergekommener Menschen, die um ein improvisiertes Lagerfeuer saßen. Sie aßen kümmerliche Reste von Lebensmittel. Eine Flasche und ein dünner Joint machten die Runde. Er sprach sie an.

»Hallo. Ich habe Hunger und mir ist kalt. Hilft mir bitte.«

»Komm hier Kumpel und setzt dich«, murmelte einer. »Wir haben nicht viel, aber vielleicht finden wir etwas für dich.«

Er nahm Platz. Das Feuer wärmte ihn. Das Essen, das er bekam, sah mehr nach Abfall aus, war aber in Ordnung.

 

Sein Hunger war vorerst gestillt. Selbst den Joint bat man ihm an und er nahm einen tiefen Zug daraus.

 

Alle erzählten ihre Geschichten, die manchmal wirr klangen und auf Geisteskrankheiten schließen ließen. Manche schliefen im Sitzen ein.

»Hey, Sohn, hast du einen Schlafsack oder so?«, hörte er die Frage durch den Schein des Feuers. Das Gesicht des Fragenden sah er nicht.

»Habe ich nicht«, antwortete er.

»Ich kann dir vielleicht ein-zwei Decken geben, aber ich will sie wiederhaben.«

»Danke, aber lass stecken. Ich gehe weiter. Vielleicht finde ich doch einen Schlafplatz.«

»Das wird nicht einfach. Alle Heime sind voll und die Platten alle besetzt. Trotzdem viel Glück, Sohn.«

»Danke vielmals. Ich danke euch für das Essen«, antwortete er.

»Gern geschehen. Gute Nacht.«

 

Die Obdachlosen ließen ihn neue Hoffnung schöpfen, aber nur das würde nicht ausreichen. Die meisten Menschen waren dumm, abgrundtief böse und faul.

 

Er konnte niemanden retten. Er konnte einem nur beibringen, sich selbst zu retten, aber genau das scheiterte immer wieder. Die Zeit war noch nicht reif.

 

Das Licht, das durch den Spalt einer Tür kam, riss ihn aus seinen Gedanken. Er blieb vor der kleinen, heruntergekommenen Kirche stehen. Er hasste solche Orte. Eine Lehre, die zum Stein geworden war, die nicht verändert und damit auch nicht gelebt werden konnte, hielt er für schädlich und nutzlos. Im Namen der bedingungslosen Nächstenliebe wurden die Türe für die Nacht zugesperrt, damit keiner sich vor Kälte und Regen verstecken konnte, damit alles sauber blieb, damit die ungewaschenen, elenden Leiber die Luft nicht verpesten.

 

Er ging hinein. Auf den Bänken und auf den Boden schliefen zahllose Menschen in Schlafsäcken und in Decken gehüllt. Unter den Schlafenden wanderte ein alter Mann in Soutane hin und her.

 

Er blieb auf dem Mittelgang stehen. Als der Mann in der Soutane ihn bemerkte, winkte ihm zu und deutete auf einen noch freien Schlafplatz. Als er auf ihn zuging, hörte das Winken plötzlich auf und im Gesicht über dem römischen Kragen spiegelte maßloses Staunen wider. Der alte Mann eilte er zu ihm und wollte sich vor ihm hinknien.

 

»Mach das nicht«, sagte er leise. »Du bist viel zu alt für dieses dämliche Theater.«

»Danke«, sagte der Alte. »Ich dachte, ich bin schon verrückt geworden. Alle halten mich für verrückt. Deswegen bin ich hier gelandet, in dieser Kirche, in dieser Gemeinde, die Arm ist wie die sprichwörtlichen Mäuse, die wir nicht haben. Endlich bist du da!«

»Ich kann aber nicht bleiben«, antwortete er, »schon wieder nicht.«

»Das wundert mich nicht.«

»Ich habe Aufrechte gefunden, aber es sind immer noch nicht genug. Deine Kollegen geben nicht genug Mühe, schätze ich.«

»Das stimmt. Es geht immer nur um Titel, um Geld und um Repräsentation, bloß nicht darum, sich um die eigentlichen Probleme zu kümmern.«

»Ich muss dann nochmal weg. Schau mal in den Opferstöcken nach«, sagte er lächelnd.

Der Alte drehte sich um und ging zum nächsten Opferstock.

»Mache ich, obwohl in den letzten Jahren nicht viel …«, sagte er und verstummte plötzlich. Es war voll und große Geldscheine ragten aus den Ritzen. Der Alte drehte sich wieder um.

»Danke Herr«, sagte er, aber der Besucher war verschwunden.

 

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