Von Winfried Dittrich

Heiligabend vor ziemlich genau einundzwanzig Jahren. Bescherung. Meine fünfzehnjährige, voll-pubertierende Persönlichkeit platzt vor Unverständnis und Wut. Ich werfe meiner Oma üble Blicke zu, bin enttäuscht. Sie lacht. Lauthals. Sie lacht mich aus, glaube ich. In Händen halte ich eine blau gekleidete und auf einer Mini-Schaukel sitzende Harlekin-Figur – Omas Geschenk. Zum Aufhängen. Sie weiß doch, dass ich auf ein Moped spare und mir noch ein paar hundert Mark dafür fehlen. Was soll das? Schöne Bescherung, denke ich.

Ich kann nicht verstehen, was in meine Oma gefahren ist. Warum beleidigt sie mich so brutal mit einem solchen Geschenk? Jedenfalls flippe ich an dem Abend total aus, stoße den Weihnachtsbaum um, pfeffere das Geschenk in die Ecke des Raumes und renne auf mein Zimmer.

***

Ich sprach daraufhin kein Wort mehr mit meiner Oma. Meine Mutter hielt es dagegen für eine Pflicht, Dankbarkeit gegenüber ihrer eigenen Mutter zu zeigen. Es kam überhaupt nicht in Frage, wegen eines Weihnachtsgeschenkes Streit anzufangen oder beleidigt zu sein. Nein, die Oma Gerda würde ja immer in guter Absicht handeln und deshalb musste ich das Weihnachtsgeschenk akzeptieren und dies auch zeigen.

Unter Androhung drastischer Sanktionen nötigten mich meine Eltern, diesen blöden Clown noch vor Silvester des betreffenden Jahres in die Einrichtung meines Zimmers zu integrieren. Vater und Mutter hängten ihn auf und waren der Meinung, dass ich mich mit der Zeit an den Clown gewöhnen würde.

Auch ich dachte das wirklich, bis ich einmal ein Mädchen mit nach Hause nahm, in das ich ziemlich verknallt war. Das war kurz nach dem lang ersehnten Kauf meines Mopeds. Ich war sehr stolz darauf, endlich genug gespart zu haben, und das Ding hatte auch die erhoffte, magnetische Wirkung auf das andere Geschlecht. Und so brachte ich dieses Mädchen namens Jenny an einem Abend im Spätsommer mit zu mir nach Hause. Ich war zu Allem bereit, und ich glaubte, Jenny auch.

Doch das grässliche Dekorationselement entpuppte sich als „emotionales“ Verhütungsmittel. Dieses grinsende Clownspuppengesicht konnte jede erotische Stimmung zerstören, wenn es so, im Wind des gekippten Fensters schaukelnd, auf mein Bett herabblickte. Ich lag also auf meinem Bett, Jenny auf mir, bereit zum Vollzug, als ich kurz nach oben blickte und plötzlich, wegen der Figur auf der Schaukel, an meine Großmutter denken musste. Wie sie da am heiligen Abend im Wohnzimmer meiner Eltern gesessen und mich so fies ausgelacht hatte. Ich hatte den hellen Lichtschein des Kaminfeuers vor Augen, der die beiden Goldzähne in ihrem weit geöffneten Mund funkeln ließ. Dann war plötzlich und nachhaltig tote Hose bei mir, und ein „Scheiß Clown!“ kam über meine Lippen.

Dank Jenny machte diese Geschichte natürlich die Runde an meiner Schule. Und mein gerade neu gekauftes Moped, mein ganzer Stolz, wurde nur noch als die „Harlekin-Davidson“ verspottet.

Meine Oma wollte ich danach erst recht nicht mehr sehen. Sie war schon nach jenem Weihnachtsfest für mich gestorben. Für den Rest der Welt dann ein knappes Jahr später.

Und so bot sich die Gelegenheit, den fiesen Gesellen in meinem Zimmer wieder loszuwerden. Am Tag vor der Beerdigung meiner Oma konnten wir sie in der Trauerhalle besuchen. Dort lag sie gut gekühlt, aufgebahrt und hübsch zurechtgemacht in ihrem Eichensarg mit strahlend weißem Stoffeinsatz. Passte eigentlich gar nicht zu Oma. Sie trug ihr blaues Kleid. Ich weiß nicht, ob es ihr Lieblingskleid war, jedenfalls mochte es meine Mutter ganz gerne. Aber die alte Strickjacke, die Oma immer getragen hatte, die fehlte. Eigentlich war sie für mich nicht mehr meine Oma, ohne diese Strickjacke. Bei der auch ansonsten pompösen Beerdigung kam es aber mehr darauf an, dass meine Mutter sich damit wohlfühlte. So verkaufte es zumindest mein Vater mir, als ich ihn darauf ansprach.

Die Halle auf dem Friedhof war für drei Stunden zugänglich. Nachdem ich mit meinen Eltern dort gewesen und wieder zu Hause angekommen war, führte ich meinen Plan aus. Ich stopfte die Figur samt Schaukel in den Mülleimer, sagte meinen Eltern, dass ich den Müll rausbringen würde und danach nochmal weg müsse. Dann setzte mich auf meinen neuen Feuerstuhl und fuhr zurück zur Trauerhalle. Die Tür war noch offen und niemand sonst anwesend.

Sozusagen als letzten Gruß stopfte ich den fest verknoteten Müllbeutel als Grabbeigabe in den noch geöffneten Sarg. Unter die weiche Decke. Konnte Oma nun wiederhaben, das olle Geschenk. Dann sagte ich: „Tschüss, Oma! Und viel Spaß damit!“ Diese ersten Worte seit dem vergangenen Weihnachtsfest waren auch die letzten, die ich meiner Großmutter sagen konnte und wollte, bevor ich mich draußen wieder auf mein Moped setzte und zufrieden nach Hause fuhr.

Meinen Eltern fiel erst nach Wochen auf, dass die Figur aus meinem Zimmer verschwunden war. Erste Fragen danach ignorierte ich. Doch schließlich kam es beim Abendessen zu einer Art Verhörsituation, in der ich gestand, die von meinen Eltern an Weihnachten ausgesprochene Auflage gebrochen zu haben. Der Clown war weg. Darauf folgten mehrere Wochen Missgunst meiner Eltern und viele schweigsame Mahlzeiten, bevor wir zwanzig Jahre lang nicht mehr über diese Sache sprachen.

Vor ein paar Tagen war einmal wieder Heiligabend. Und Bescherung, natürlich. Die begehe ich immer zusammen mit meiner mittlerweile verwitweten Mutter. Sie wäre ja sonst ganz allein. Aber ich bin ja noch nicht ausgezogen.

Diesmal erwarteten mich überraschenderweise zwei Geschenke. Nicht nur das obligatorische Geschenk vom Christkind, also das Geschenk meiner Mutter. Nein, es lag noch ein weiteres Päckchen unter dem Baum.

„Eine schöne Überraschung“, sagte ich im ersten Moment. „Hätte ich nicht erwartet“. Meine Mutter freute diese Bemerkung sichtlich.

„Ja, eine schöne Überraschung“, erwiderte meine Mutter, blickte mich erwartungsvoll an und zwinkerte mir zu.

Als ich das Geschenkpapier aufriss, bekam ich einen gehörigen Schrecken. Ich blickte in das fies grinsende Gesicht dieses bescheuerten Clowns, dem ich genau 21 Jahre zuvor schon einmal begegnet war.

Ich ließ das Geschenk auf den Boden und mich in das Sofa fallen. Meine Mutter versuchte, mich sofort mit der folgenden Erklärung wieder einzufangen:

„David, im letzten Jahr habe ich Omas alte Strickjacke zu Karneval getragen. Als Teil meines Kostüms. Und in der Innentasche fand ich diese Weihnachtskarte an dich. Von vor 21 Jahren. Die muss Oma bis zu ihrem Tod mit sich herumgetragen haben.“

Sie las vor:

„Lieber David,

ich hoffe, du ärgerst dich schön über den grässlichen Clown, den du gerade ausgepackt hast.

Den habe ich letzte Woche auf der Weihnachtsfeier beim Schrottwichteln geschenkt bekommen. Kegelschwestern können grausam sein. Omas auch. Und deine Oma erst.

Es ist doch das perfekte Geschenk, um jemanden zu verschaukeln, oder? Aber Spaß beiseite. Zieh mal das Jäckchen des Clowns nach oben. Darunter findest du ein Sparbuch von mir. Das lassen wir im neuen Jahr auf dich umschreiben. Das Geld soll dir das Moped mitfinanzieren, und die ersten Reparaturen wirst du davon bestimmt auch bezahlen können. Du sollst nun mal ein bisschen rauskommen und unabhängiger werden.

Alles Liebe zum Weihnachtsfest!

Deine Oma Gerda.“

Meine Mutter musste sich einige Tränen verkneifen und erklärte mir, dass sie nach dem Fund einen Mitarbeiter der Friedhofsverwaltung bestochen hatte. Dieser informierte sie rechtzeitig, als die Grabstelle für eine neuerliche Beerdigung ausgehoben worden war. Meine Mutter muss dann wohl in den Nächten vor der Beerdigung, mit Schaufel und Kompostsieb bewaffnet, an dem Grab gearbeitet haben, um die von mir verscharrte Clownsfigur aus dem Aushub zu fischen.

Ich war ziemlich verblüfft, das wahre Geschenk zum zweiten Mal in Händen zu halten. Gleichzeitig fragte ich mich, ob es wohl eine gute Idee war, meinen Vater verbrennen zu lassen. Na ja. Jedenfalls zog ich das Kleidungsstück des Clowns hoch und das Sparbuch heraus. Dank des Müllbeutels, war es noch gut erhalten. Polyethylen ist ein Teufelszeug. Das verrottet in hundert Jahren nicht.

Nun freute ich mich ziemlich über das Sparbuch, und ein ganz intensives Gefühl der Scham überkam mich. Pubertät hin oder her, ich hatte der Oma unrecht getan …

 

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