Von Yvonne Tunnat

Heute isst er gefälligst in der Küche! Er soll nicht wieder in sein Zimmer verschwinden! Ich rufe ihn. Der Tisch ist gedeckt, sogar bereits aufgetan: Nudeln mit Tomatensoße. Mein Bruder Jerome schlurft in die Küche, nimmt den Teller und dreht sich wieder zur Tür um.

Fast schaffe ich es, ihn rechtzeitig zu überholen. Ich will mich ihm entgegen stellen, ihn in der Küche halten. Aber da ist er schon auf dem Flur, fängt im Gehen an, mit der Gabel die Pasta aufzupieken und sich die erste Fuhre in den Mund zu schieben.

Ich nehme meine Nudeln und gehe ihm nach. Da sitzt er, den Teller direkt vor seiner Tastatur platziert und guckt essend auf den Monitor.

Ihm gegenüber steht ein Sessel vorm Schreibtisch. Den habe ich vor ein paar Wochen dorthin gestellt. Er hat nichts dazu gesagt, sonst hätte ich ihm erklärt, warum. So kann ich mit ihm gemeinsam essen und dabei einigermaßen gemütlich sitzen. Auch heute nehme ich wieder auf dem Sessel Platz. 

Vor dem Unfall hatte er Sommersprossen. Traf sich mit Freunden. Spielte Fußball. Draußen. Mit Körpereinsatz, nicht Mauseinsatz.

In der linken Hand hält er die Gabel, und mit der rechten bewegt er die Maus und klickt herum. Das Klicken ist das einzige Geräusch im Zimmer. Dadurch wirkt es seltsam laut.

Auf seinem Schreibtisch stehen drei gebrauchte Kaffeetassen. Sie sind aus Glas. Ich sehe, dass in einer unten ein Rest drin ist, der krümelig geworden ist. Es gibt weiße, grüne und blaue Krümel. Die werde ich heimlich wegwerfen. Gleich in den Müll im Hinterhof. Wenn ich die erst nur in den Mülleimer unter der Spüle werfe, holt er sie wieder raus. Draußen im Hausmüll ist die Tasse sicher und endgültig weg.

„Und?“, will er wissen. „Wie war es so hinterm Tresen am Wochenende?“ Er fragt wie mechanisch, piekt und klickt dabei weiter.

„Gut. Ich bin da gut beschützt. Wegen der Türsteher. Das bin ich zum Beispiel in der Straßenbahn nicht.“

„Schränke ohne Hirn”, sagt er.

Das kommt immer von ihm, wenn die Stichworte ‚Türsteher’‚ Giorgina’ oder ‚Leon’ fallen. Es ist fast, als würde man einen Knopf drücken. Ich habe sogar darüber nachgedacht, ob was dran ist. Doch dann sehe ich Giorgina vor mir, wie sie über den neuesten Kinofilm referiert und dabei Brücken schlägt bis zurück zu Charlie Chaplin. Oder Leon, wie er mit verschränkten Armen dasteht und die Gäste anguckt. Wie er einen Streit schlichtet. Ohne viele Worte zu verlieren. Mit einer Ruhe, die irgendwie ansteckend ist.

Natürlich weiß ich nicht, ob sie gut in der Schule waren oder ob sie viel lesen. Aber sie nehmen wach am Leben teil.

Sogar Jerome würde das einsehen. Wenn er sie denn mal erleben würde!

„Du kannst nicht ewig kellnern“, sagt er jetzt.

Habe den Mund voller Nudeln. Kann nichts sagen. Ich verdrehe die Augen. Er guckt nur seinen Monitor an und sieht es nicht. Sein Monitor ist größer als mein Fernseher.

„Ich kann kellnern, so lang ich will.“

„Du hast doch so n schönes Abitur.“

Manchmal wünschte ich, ich hätte es nicht. Dann könnte ich in Ruhe kellnern.

„Diese komische Marita und diese Italiener, mit denen du da zu tun hast, das passt mir gar nicht.“

In seinen Augen reflektiert etwas Rotes, das er auf seinem Bildschirm sieht. Spielt er? Arbeitet er? Der Rest seines Zimmers ist fast leer. Vor allem die Wände. Weiße Leere. Hinter ihm hängt nur der Zeitungsartikel von dem Unfall. Das Foto vom kaputten Auto nimmt fast den ganzen Artikel ein, es gibt wenig Text. Wenn ich nur damals stattdessen ein Taxi gerufen hätte.

„Diese Italiener, mit denen du da arbeitest“, schnaubt Jerome und reißt mich aus meinen Gedanken. Ich finde es immer wieder witzig, dass er ‚diese Italiener’ sagt, was vermutlich an Giorginas Namen liegt. Leon ist aber griechisch. Der Name. Der Mann? Weiß ich nicht.

Griechisch, italienisch, spanisch, das macht für Jerome keinen Unterschied. Seiner Meinung nach lieben alle Südländer ihre Mutter zu innig und machen den Frauen schon nach wenigen Tagen herzzerreißende Heiratsanträge. Ich stelle mir Leon vor, wie er vor Marita auf die Knie fällt, mit einer Rose im Mund, und ihr ein kleines Kästchen mit einem Ring drin hinhält. Das sollte er lieber lassen. Er würde sich am Rosenstiel in die Lippen stechen und Marita würde ihn auslachen.

Marita will niemals heiraten. Ich vielleicht schon. Aber wenn ich ausziehe, spricht mein Bruder Jerome vermutlich nie wieder live mit einem Menschen, und all seine Gespräche finden nur noch getippt statt.

„Marita ist nicht komisch“, sage ich nur.

„Na ja.” Ich schlucke den Rest Nudeln hinunter. Er zuckt die Schultern. „Zumindest scheint es dir Spaß zu machen. Und bisher hast du auch keine Männer nach Hause gebracht.“

Solange ich die Wohnung mit Jerome teile, kann ich das auch nicht. Er ist quasi immer wach. Weiß sogar, wie oft ich nachts auf der Toilette war. Außerdem riecht es überall nach ihm. Alles. Auch mein Bett. Immer. Selbst wenn es frisch bezogen ist.

Falls mich jemand mit zu sich nach Hause mitnehmen würde, würde Jerome daheim auf mich warten. Nach Unfällen und Überfällen googeln. Mein Handy orten. Verhungern.

Ich wäre auf schnelle Nummern im Stehen in dreckigen Toiletten angewiesen und das kommt überhaupt nicht in Frage.

Jerome hatte seine letzte Freundin mit dreizehn. Er ist seltsam aufgeschwemmt und weich. Seine T-Shirts sind alle zu eng, so dass der Körper darin an die Grenzen des Stoffes stößt und die Kleidung ausbeult.

„Das ist doch nicht das richtige Leben“, sagt er. „Du siehst immer nur deine Clubgäste.“

„Das musst du gerade sagen.“

Er guckt ernst. „Ich kommuniziere mit der ganzen Welt. Mir entgeht nichts. Ich folge fünftausend Leuten auf Twitter. Aus aller Welt.“

Er würde noch mehr Leuten folgen. Aber mehr sind nicht erlaubt. Es sei denn, er hätte selber einen guten Kreis von Followern. Das hat er aber nicht. Er hat keine eigenen Inhalte. Jeromes Teller ist leer. Meiner auch. Ich bringe die Teller und die Kaffeetassen in die Küche.

Eigentlich bin ich nicht viel anders als Jerome. Er ist der Einzige, mit dem ich zu sprechen versuche, wenn man Maritas Monologe nicht mitzählt. Frau Sprekker sagt, dass ich meinen Bruder als Ausrede benutze, um nicht mein eigenes Leben beginnen zu müssen.

Ich dachte vorher immer, dass die nur zuhören und dies auf eine Art, mit der sie die Patienten selber auf Ideen bringen. Frau Sprekker ist anders. Sie sagt, meint, findet und erklärt so viel, dass sie oft in den 50 Minuten mehr spricht als ich. Was Frau Sprekker meinem Bruder sagen würde, weiß ich nicht. Er geht nicht mehr hin. Jerome ist schon lange nicht mehr irgendwohin gegangen.

Wenn ich nicht rausgehen und einkaufen würde? Wenn ich einfach mal doch nicht nach Hause kommen würde? Und er dann merkt, dass ich gar nicht da bin? Läuft durch die Wohnung. Sucht mich. Ruft mich an. Ich habe das Handy ausgemacht. Komme tagelang nicht heim. Er muss dann raus. Den Müll rausbringen. Ins Treppenhaus. In den Hinterhof. Zum Supermarkt. Der Kassiererin zulächeln. Alleine kochen in der Wohnung. Wieder Farbe ins Gesicht bekommen. Sein Leben organisieren. Nicht vom Rechner aus. Vielleicht geht er dann endlich zum Friedhof. Kauft neue Blumen für unsere Eltern. “Du musst jetzt auf mich aufpassen”, hat er damals zu mir gesagt. Das habe ich. Fast zehn Jahre lang. Jetzt probiere ich mal eine neue Art aus, auf ihn aufzupassen. Nach meiner Schicht übernachte ich bei Marita. Ein paar Tage lang.

 

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