Von Eva Fischer

Es war ein Freitag, als ich den Entschluss fasste, meine letzte Zigarette anzuzünden. Ich rauchte seit 55 Jahren und ich dachte mir, es sei gut, eine Raucherpause von 55 Jahren einzulegen, bevor ich wieder losqualmte.

Für meine Abschiedszeremonie suchte ich nach einer schönen Parkbank, die ich versteckt hinter bunt gemustertem Herbstlaub fand, ideal auch für ein nächtliches Liebespaar. Aber jetzt war es elf Uhr vormittags und der Park menschenleer.

Ich erinnerte mich an den Ort, wo ich meine erste Zigarette geraucht hatte. Das erste Mal vergisst man nie! Es war in einer Disko (so nannte man das vor 55 Jahren). Ich brauchte den Glimmstängel, um cool auszusehen in meinem schwarz-weißen Mini-Courrèges-Kleid und um meine Nervosität bezüglich des Typen, der mich zum Tanzen auffordern würde, in den Griff zu kriegen. Nebenbei war die Zigarette auch recht praktisch. Gefiel mir der Tänzer nicht, zeigte ich auf meinen Glimmstängel, was hieß, kann momentan nicht tanzen. Gefiel er mir, drückte ich die Zigarette im Aschenbecher aus und folgte ihm auf die Tanzfläche.

Mein erster Freund war Nichtraucher, was mich nicht allzu sehr gestört hat. Ok, nach dem Sex hätte mir der Griff zur Zigarette schon gefallen. Also, auch wenn der ursprüngliche Grund für eine Zigarette wegfällt, es finden sich immer neue. Irgendwie bleibt die Zigarette stets das Tüpfelchen auf dem i. Nach dem ersten Kaffee am Morgen, nach einem leckeren Essen, aber auch zu einem Glas Wein, während eines angeregten Gespräches, während man sich einen Text ausdenkt, während man auf die Bahn wartet … 

Nun hat es sich in den letzten Jahrzehnten herumgesprochen, dass so viele Tüpfelchen nicht gesund sind. Jede Zigarettenschachtel schmücken wahre Horrorfotos: krebsbefallene Lungenflügel, amputierte Beine, entzündetes Zahnfleisch, Blut spuckende Menschen…

Das will kein Nichtraucher sehen, aber auch kein Raucher, weshalb es bunte Boxen gibt, die er den Horrorszenario-Schachteln einfach überstülpt. Fazit: Ich bin aufgeklärt. Ich rauche auf eigene Gefahr. Wenn ich mich einer OP unterziehe, muss ich auch unterschreiben, dass ich gegebenenfalls sterbe.

Warum wollte ich gerade jetzt aufhören zu rauchen?

Sowohl der Anfang wie auch das Ende sind meist nicht zwingend oder logisch. Ich hätte auch ohne Zigarette einen Tanzpartner gefunden und mich hatte bisher keine Krankheit abgehalten weiter zu rauchen.

Zwar hatte der Arzt mir gerade bestätigt, dass ich an einer Bronchitis litt. Ich sollte mich schonen, schleimlösende, fiebersenkende Medikamente einnehmen und eine Raucherpause einlegen. Das Rezept würde ich gleich auf dem Rückweg in der Apotheke einlösen. Meine voraussichtlich letzte Zigarette meines Lebens wollte ich aber noch zelebrieren. Wer einen 55 Jahre treu begleitet, hat einen würdigen Abgang verdient.

Ich atmete, inhalierte, hustete, atmete …

Auf einmal ertönte ein heiseres Bellen.

Ich schaute mich um. Saß da jemand im Gebüsch und machte sich über meine Raucherzeremonie lustig? Ich ließ die Blicke schweifen. „Tiefer!“, mahnte mich ein erneutes Gebell und dann schwappte fauliger Atem aus dem Maul eines Wesens, das man in seinen guten Zeiten als Hund bezeichnet hätte. Sein Fell war struppig und glanzlos und wies immer wieder nackte, rosafarbene Stellen auf. Seine Beine waren kurz und krumm und schienen nicht in der Lage, den Bauch in gebührendem Abstand zum Boden zu tragen. So saß er auch, vor sich hin hechelnd, vor mir und glotzte mich erwartungsvoll aus seinen trüben Augen an.

„Willste auch eine Zigarette?“, witzelte ich. „Ich hätte da noch eine übrig.“

Mit Schwung warf ich die restliche Zigarettenpackung in den Abfallkorb neben der Bank. Instinktiv schaute ich mich um, ob in der Nähe ein Spielplatz war. Schließlich wollte ich es nicht schuld sein, wenn die Kleinen schon früh Drogenexperten wurden.

Das hundeartige, dackelähnliche Wesen gab einen ins Mark gehenden Heulton von sich.

„Zu spät, Kumpel“, dachte ich und suchte durch das Kraulen seiner Fellreste den Ausknopf für die Sirene zu finden, was tatsächlich gelang. Eine Weile saßen wir friedlich nebeneinander.

„Ich weiß nicht, was du noch heute vorhast, aber ich muss jetzt noch zur Apotheke und dann unter die Bettdecke. Schönen Tag noch!“

Ein erneuter Hustenanfall machte mir das Aufstehen schwer. Auch der Hund begab sich mühevoll und mich vorwurfsvoll ansehend auf seine vier Beine und wackelte hinter mir her.

„Moment, Kumpel! Wo ist denn dein Herrchen oder Frauchen? Also, ich bin es nicht. Das solltest du sowohl sehen als auch riechen.“

Der Vierbeiner verlagerte nun seine ganze Energie in den hinteren Bereich seines unförmigen Körpers und begann mit dem Schwanz zu wedeln. 

Welches Wort hatte ihn so erfreut? Frauchen? Herrchen? Egal, ich musste jetzt weiter. „War nett, dich kennengelernt zu haben.“

Das Vieh entblößte seine nikotingelben Zähne und grinste mich an. 

Ich plumpste rückwärts auf die Bank, hustete und lachte, wobei das Tier mich mit heiserem Bellen begleitete.

„Oh Mann, was bist du für eine hässliche Kröte! Ich gebe dir jetzt wenigstens einen schönen Namen. Ich nenne dich Niko.“  

*

Die nächste Woche verbrachte ich im Bett. Ich verlor jegliche räumliche und zeitliche Orientierung. Was war mit Niko? Er existierte weiter in meinen Fieberträumen. Dort hatte er Tine, seine große Liebe, wiedergefunden. Daraufhin war sein Bauch geschmolzen, sein struppiges Fell ähnelte nun dem von Strolchi, der ja bekanntermaßen auch Susi bezirzen konnte. Sein ehemals fauliger Atem roch angenehm nach Zahnpasta. 

Tine war eine coole schwarzfellige Labradorhündin und überragte Niko um Längen. Sie schaute teils spöttisch, teils amüsiert auf die Kugel unter ihr, die sich so abmühte, ihr zu gefallen. 

Ja, es war eine Woche mit wirren Träumen, die mir jedoch die Nikotinteufelchen vom Leib hielt. Der harte Alltag kam erst, nachdem sich Kopf und Körper wieder abgekühlt hatten, mich weder Hustenanfälle noch Schluckbeschwerden quälten. Nun musste ich beweisen, dass ich auf Dauer ohne i-Tüpfelchen auskam, dass mein Nein stärker war als die täglichen Versuchungen. 

Was aber machte ich gegen die plötzliche Leere, die sich in meinem Kopf breit gemacht hatte? Ich musste erst einmal aus dem Alltagstrott ausbrechen, wo an jeder Ecke ein Nikotinteufelchen mir  zusäuselte: „Komm schon! Eine kann nicht schaden!“

*

Ich nahm mein Auto, fuhr dreihundert Kilometer weiter nordwestlich ans Meer. Meine beste Freundin war so nett und hatte mir den Schlüssel für ihre Ferienwohnung gegeben.

Der menschenleere Strand, der wütend an mir zerrende Wind, das Brüllen des Meeres konnten vielleicht andere Energien in mir freisetzen. Eine Zigarette konnte ich – rein theoretisch – unter diesen Umständen weder anzünden noch in der Hand halten. Die Leere im Kopf fühlte sich gut an und ich konzentrierte mich allein auf das Einatmen der jodhaltigen Seeluft.

So pflügte ich Tag für Tag den Sandstrand entlang wie ein Ochse das Feld. Am Ende gönnte ich mir eine Tasse friesischen Tees in einem kleinen Bistro mit Blick auf das Meer. Ich wärmte meine Hände an dem heißen Getränk, als es an der Tür scharrte. Der Wirt öffnete dem völlig durchnässten Gast die Tür, der die Höhe eines mittelgroßen Schnauzers hatte, sich kurz schüttelte und sich dann auf dem ihm zugewiesenen Platz niederließ.

Unsere Blicke kreuzten sich. Eine warme Woge der Sympathie schwappte in mir hoch und ich ging zu dem Hund, dessen ergraute Schnauze ein gewisses Alter verriet, und kraulte ihn hinter den Ohren.

Der Wirt stand an der Theke, polierte seine Gläser und schaute uns zu.

„Den können Sie mitnehmen, wenn Sie wollen.“

Ich traute meinen Ohren nicht. Sollte das ein Witz sein? 

„Sein Herrchen hat vor einer Woche das Zeitliche gesegnet“, fuhr der Wirt unbeirrt fort. „Ins Tierheim wollte ich ihn nicht geben, aber eigentlich habe ich keine Zeit für das Tier. Ich muss mich um meine Gäste kümmern.“

„Wie heißt der Hund?“

„Ach, was weiß ich! Nennen Sie ihn, wie Sie wollen. Strolchi, Struppi, Krümel, Kümmel…“

„Niko!“, flüsterte ich dem Tier ins Ohr.

Er legt den Kopf schief und fixierte mich neugierig. 

„Sollen wir zusammen Gassi gehen?“

Sofort sprang er auf, bellte freudig und wedelte mit dem Schwanz.

„Na, geht doch.“ Der Wirt reichte mir freudig Nikos Leine.

*

Das ist jetzt ein Jahr her. Niko und ich sind ziemlich beste Freunde geworden. Wann immer das Nikotinteufelchen an mir zerrt, greife ich zu Nikos Leine.

Wir haben uns gut aneinander gewöhnt. Für einen Neuanfang ist es nie zu spät. 

 

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