Von Regina Wolf-Egger

Dadamm. Radamm. Dadamm. Radamm. Dadamm. Radamm. Dadamm. Radamm.

 

Es ist heiß. Unerträglich heiß.

Durch den Spalt in der Schiebetür dringt ein wenig Licht in den Waggon.

Das Licht wechselt mit Schatten, wenn der Zug an einem Baum oder einem Haus vorüberfährt. Im Licht tanzen winzige Staubkörner.

 

Dadamm. Radamm. Dadamm. Radamm. Dadamm. Radamm. Dadamm. Radamm.

 

Wann kommt endlich die Krankenschwester wieder? Sie ist so gut zu mir, spricht leise und freundlich. Sie wischt mir mit einem feuchten Lappen über das Gesicht.

Aus Dänemark ist sie. Aber man hört es nicht, wenn sie spricht. Sie spricht wie mein norddeutscher Kamerad und der kommt aus Kiel.

 

Dadamm. Radamm. Dadamm. Radamm. Dadamm. Radamm. Dadamm. Radamm.

 

Berit heißt sie. Gestern hat sie mich mit Milchreis gefüttert. Eigentlich meine Lieblingsspeise. Es ist ein Luxus, wenn du hier Milchreis kriegst, denn meist ist im Blechnapf nur Mamaliga. Das ist der Maisbrei, den sie hier in Rumänien essen. Er riecht schimmlig, so als wären die Körner schlecht gelagert und feucht geworden, bevor man sie gemahlen hat. Die Rumänen ernähren sich fast nur von Mamaliga, sie sind unbeschreiblich arm, noch ärmer als die Leute bei uns zuhause.

 

Dadamm. Radamm. Dadamm. Radamm. Dadamm. Radamm. Dadamm. Radamm.

 

Ich habe den Milchreis leider erbrochen. Ich kann nichts in mir behalten. Das kommt vom Fieber. Sagt die Schwester. Sie hat mich gesäubert und anschließend meinen Puls gefühlt. Ihre Hand ist kühl und braun wie Milchkaffee. Auf ihrer Haut glänzen goldene Härchen. Mein Arm neben ihrem hat eine graue Farbe. Das macht mir Angst.

 

Dadamm. Radamm. Dadamm. Radamm. Dadamm. Radamm. Dadamm. Radamm.

 

Ich weiß nicht, wie lange wir schon unterwegs sind. Ich weiß nur, dass wir immer weniger werden. Wir fahren in einem Zug, aus dem die Passagiere nur aussteigen. Keiner steigt zu. Der Kamerad mit dem Bauchschuss ist auch nicht mehr da. Wenigstens hat jetzt das Schreien ein Ende. Ich schreie nicht. Kostet zu viel Kraft. Aber mein Bein kribbelt und schmerzt, so als würden tausend Ameisen an ihm nagen. Wenn ich könnte, würde ich dran kratzen, aber sie haben einen Gips herum gemacht.

 

Dadamm. Radamm. Dadamm. Radamm. Dadamm. Radamm. Dadamm. Radamm.

 

Ich bin jetzt neunzehn Jahre alt und habe in den letzten eineinhalb Jahren schon so viel von der Welt gesehen. Davor bin ich aus meinem Dorf so gut wie nie hinausgekommen. Nur zur Firmung hat mich der Firmgöd nach Graz eingeladen. Wir sind mit dem Zug gefahren. Das war ein Erlebnis! Das erste Mal mit dem Zug durch einen Tunnel und dann erst die Stadt!

So viele Häuser und Menschen und dann auch noch die Elektrische. Man muss gut aufpassen, wenn man da die Straße überquert. 

Wir sind auch zum großen Kaufhaus in der Sackstraße gegangen. Das war mein Wunsch, denn ich wollte unbedingt den Neger sehen. Schon in der riesigen Verkaufshalle habe ich die Augen aufgerissen. So eine Pracht! Wenn man in der Mitte des Raumes steht, kann man über drei Stockwerke direkt hinauf auf eine Glaskuppel schauen. Und von jeder Etage kann man von der Galerie aus hinauf in die Kuppel und hinunter ins Erdgeschoß sehen. 

Und dann erst die Aufzüge!  Aus glänzendem Messing und daneben stand der Neger in einer roten Uniform mit goldenen Kordeln. Er war der Liftboy. Ganz schwarz war sein Gesicht und wenn er lächelte, blitzten die weißen Zähne. 

Gekauft haben wir nichts in dem Geschäft, ich wollte ja nur den Neger sehen und ihn auch angreifen. Ich habe es an der Hand versucht. Habe ihn ganz leicht berührt. Seine Haut hat nicht abgefärbt. Er war echt.

 

Dadamm. Radamm. Dadamm. Radamm. Dadamm. Radamm. Dadamm. Radamm.

 

Ein Kamerad aus Graz, den ich in Russland getroffen habe, der hat mir erzählt, dass es den Neger schon lange nicht mehr gibt. Und das Kaufhaus heißt jetzt auch nicht mehr Kastner und Öhler. Die früheren Besitzer waren Juden. Und mit denen ist der Hitler ja bekanntlich abgefahren. Die sitzen jetzt wahrscheinlich in Amerika oder in einem Arbeitslager. Und das Kaufhaus heißt jetzt Alpenlandkaufhaus.

Wenn nur der Krieg nicht gekommen wäre! 

Wahrscheinlich gibt es die Glaskuppel gar nicht mehr. Im letzten Feldpostbrief hat die Mutter geschrieben, dass der Tommy jetzt auch Graz bombardiert.  

Wenn nur der Krieg nicht gekommen wäre! 

Und jetzt hat es mich schon wieder erwischt. Am Dnjepr, voriges Jahr, da habe ich ein paar Granatsplitter abbekommen. Danach in die Heimat. Genesungsurlaub.

Aber das jetzt. Das ist schlimmer.

 

Dadamm. Radamm. Dadamm. Radamm. Dadamm. Radamm. Dadamm. Radamm.

 

Ich kann mich nicht mehr an viel erinnern. Nur dass der MG-Schütze getroffen wurde. Die Rumänen hatten umgedreht, hatten sich den Russen angeschlossen. Auf einmal wussten wir nicht mehr, wer Freund und wer Feind war. 

Dort im Wald in den Ostkarpaten. 

Was für eine schöne, wildromantische Landschaft! Berge, Wasserfälle und riesige Wälder. 

Nahkampf. 

In so einem Wald! 

Hinter jedem Baum lauert einer. 

Tagelang ging das hin und her. 

Und dann traf es den MG-Schützen! 

Irgendwer musste schließlich das Maschinengewehr holen. Wir konnten es doch nicht einfach so liegen lassen. Der Feind hätte es sich genommen.

Der Spieß hat geschrien. Einer muss raus.

Aber keiner ist gegangen.

Da habe ich Trottel mich freiwillig gemeldet. 

Bin raus. 

Ich weiß nicht warum.

Geschützfeuer.

Dann hat es mir schon die Beine weggerissen. Ich habe gleich gewusst, dass da etwas Gröberes passiert ist. Einen halben Tag bin ich dort gelegen.

Und hab gewartet. Dass sie mich holen.

Über mir der blaue Himmel und Baumwipfel, die sich im Wind bewegten.

Die Ostkarpaten sind wunderschön! Wenn der Krieg erst aus ist, dann fahre ich da hin.

 

Dadamm. Radamm. Dadamm. Radamm. Dadamm. Radamm. Dadamm. Radamm.

 

Die Krankenschwester ist da. Sie streicht mir über die Stirn. Sie lächelt.

„Du redest im Schlaf. Du fantasierst. Das ist das Fieber!“

Sie gibt mir zu trinken.

Ich bin so müde. 

Möchte einfach nur schlafen.

Der Arzt ist auch da.

„Wir müssen den Gips abnehmen. Vielleicht ist es Wundbrand.“

Wundbrand? Mein Herz schlägt wie verrückt.

Mit einer kleinen Säge schneidet der Arzt an meinem Gips herum.

Ich kann den Gestank riechen, der von meinem Bein her kommt.

Süßlich, faulig und warm.

Mit einem Ruck biegt der Arzt die Gipsschalen auseinander.

Ich beiße die Zähne zusammen, aber aus meinen Augen treten die Tränen.

Der Arzt reißt den Gipsverband herunter.

Ein Schmerz durchfährt mich, als würden tausend Messerklingen in mein Fleisch schneiden.

Der Arzt schaut auf mein Bein mit offenem Mund. 

Ich muss es sehen, muss es auch sehen. 

Ich muss sehen, was mit meinem Bein los ist. 

Ich richte mich auf. 

Schaue hin. Sehe es.

Auf meinem Bein wimmelt es. 

Maden! 

Wie ein lebender Teppich bewegt sich die Haut. 

Nein, die Haut bewegt sich nicht, es sind die Maden.

Berit legt die Hand über meine Augen, drückt mich zurück auf die Decke.

Zwischen ihre Finger hindurch kann ich das Gesicht des Arztes noch einmal sehen. Er nickt stumm. 

Es ist derselbe Arzt, der die Reihen der Verwundeten abgeschritten ist, und entschieden hat, wer von ihnen im Zug und wer im Flugzeug abtransportiert wird. 

Bei wem sich der Flieger überhaupt noch auszahlt. 

Bei mir hat er sich nicht mehr ausgezahlt. 

Sie haben geglaubt, ich bin schon tot.

Zu guter Letzt haben sie mich dann aber doch noch aufgeklaubt.

 

Dadamm. Radamm. Dadamm. Radamm. Dadamm. Radamm. Dadamm. Radamm.

 

Ich sehe nur noch Berit, wie sie sich über mich beugt und mit ihrer Hand über meine Stirn fährt. Wie kühl ihre Finger sind! Und was für schöne Augen sie hat, blau wie ein Bergsee in den Karpaten. Und auf der Nase hat sie winzige Sommersprossen und sogar auf den Wangen sind die goldenen Härchen. Dann beginnt sich der Waggon zu drehen, dreht sich immer schneller, bis ich endlich davonfliege.

 

Dadamm. Radamm. Dadamm. Radamm. Dadamm. Radamm. Dadamm. Radamm.

 

 

Den August 1944 hat Rudi vorerst überlebt. 

Sein Bein wurde abgenommen. 

Der Phantomschmerz hielt die Erinnerung an den verlorenen Körperteil bis zum August 1997 aufrecht.

Dann siegte eine Kugel endgültig über die Kriegsbilder in seinem Kopf.

 

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