Von Anna Deichmann

Ich war neunzehn und heute bin ich es noch.

Ich war neunzehn, als du die Bombe geworfen hast.

Ich war neunzehn, als ich die Explosion hörte, in den Nachrichten, zum allerersten Mal.

Und danach in meinen Gedanken, immer und immer wieder.

Ich war neunzehn. Und heute bin ich es noch.

Wie alt warst du, als du die Bombe geworfen hast?

Und wie alt, als du zum ersten Mal daran gedacht hast? An das Feuer. An die Hitze. An die unsichtbare Kraft, die Gliedmaßen auseinanderzureißen vermag. So wie Papier. Oder Watte. Oder Seidenfäden, an denen kindisch-dumme Träume hängen.

Wie alt warst du, als du zum letzten Mal geträumt hast, und wie alt warst du, als du die letzte Wimper weggeblasen hast?

Ich war achtzehn, als ich sachte pustete und meine pechschwarze Wimper im Wind davonsegeln sah. Was ich mir gewünscht habe? Verrate ich nicht. Sonst geht es ja nicht in Erfüllung.

Mein Bruder war zehn, als er zum ersten Mal mit der U-Bahn in die Schule fuhr.

Mein Bruder war zehn, als er zum letzten Mal mit der U-Bahn in die Schule fuhr.

Mein Bruder wurde auseinandergerissen, wie Seidenfäden, an denen seine kindisch-dummen Träume hingen und an denen ich Wunschkugeln aus zerknülltem Papier aufgehängt habe. Wie eine Girlande zwischen ihm und mir, wie eine Girlande, die aufgehangen wurde, aber dann wurde der Geburtstag abgesagt, weil das Geburtstagskind tot ist, und dann hat niemand daran gedacht, sie wieder abzuhängen.

Hast du meinen Bruder gesehen? Hast du dich daran erinnert, wie es war, zehn Jahre alt zu sein? Hast du vielleicht deshalb die Bombe geworfen. Ging es dir vielleicht besonders schlecht, damals, als du zehn Jahre alt warst. Hast du die Erinnerung nicht ertragen.

Ich ertrage die Erinnerung nicht, daran, neunzehn gewesen zu sein. Aber ich bin es noch. Und deswegen erinnere ich mich jeden Tag wieder. An deine Bombe, an die U-Bahn, an meinen Bruder und die Fetzen in der Luft.

Hast du schonmal eine Party gefeiert? Mein Bruder wollte mir Konfettikanonen für meinen neunzehnten Geburtstag kaufen und ich habe ihn angefahren, so einen Kinderkram bräuchte ich nicht mehr. Wie viel lieber wäre mir das Knallen einer Konfettikanone gewesen. Als das dumpfe Geräusch der Explosion, das durch den Fernseherlautsprecher kam.

Ich war seit zwölfeinhalb Stunden neunzehn. In zwölfeinhalb Stunden bin ich es nicht mehr.

Hast du die Sekunden gezählt? Oder nur die Augen geschlossen und gewartet? Hast du dich gefragt, was passiert, in dem Moment, in dem es deinen Körper auseinanderreißt und dein Herz aufhört zu schlagen? Hast du deine Gefühle und Gedanken in die Luft entweichen sehen? Und die meines Bruders? Wo sind sie? Warum sehe ich sie nicht? Warum kann ich sie nicht einfangen?

Wenn ich morgen Früh aufwache und wieder an meinen Bruder denke und wieder Seidenfadengirlanden und Wunschkugeln und zerrissenes Papier vor mir sehe, dann bin ich zwanzig. Und doch wird die Zeit an mir vorbeigehen wie ein Adler über Wüstensand hinwegfliegt.

Ohne Spuren.

Du und jeder Gedanke an dich wird Spuren hinterlassen. Und ich werde wieder neunzehn sein. Du hast mich nie gesehen und doch klebt deine Spucke an meiner Wange und mein Blut an deinen Händen. Du kennst mich nicht und doch hasse ich dich bis auf die Knochen, bis auf dein letztes Haar, bis auf die letzte Wimper, die deine traumlosen, tränentrockenen Augen ziert.

Denn ich war neunzehn. Und für immer bin ich es noch.