Von Katharina Rieder

Ich war erst neunzehn und dachte, ich hätte mein ganzes Leben vor mir, doch nun liegt es bereits hinter mir. Niemand außer mir und dem Täter weiß, wie meine letzten Stunden verlaufen sind. Aber es gibt da jemanden, der es herausfinden muss, damit ich in Ruhe gehen kann: Bella. Von ihr habe ich damals alles gelernt.

Ich staune: Ganz schön viel los hier. Zu meinem freien Begräbnis im Wald ist anscheinend der ganze Ort zusammengekommen. Ich habe noch nie so viele traurige Gesichter auf einem Fleck gesehen. Bunte Blumenkränze und brennende Kerzen sucht man hier vergeblich. Dafür zwitschern die Vögel fröhlich vor sich hin. Inmitten einer Lichtung lächle ich, wie die Sonne an einem schönen Sommertag von einem Porträt herab. Mein Vater steht mit gesenktem Kopf direkt vor dem Erdaushub. Wie gerne würde ich ihn in den Arm nehmen und sagen, dass alles gut wird. Doch das wäre gelogen, denn ich werde nicht mehr zurückkehren. Und mehr als einen sanften Lufthauch kann ich ihn auch nicht spüren lassen. Schließlich bin ich tot, auch wenn meine Seele noch auf der Erde ist.

Hinter meinem Vater reihen sich schwarz in schwarz die anderen Trauergäste. Die meisten der Männer kenne ich besser, als mir lieb ist. Ganze Romane könnte ich mit Details, die ich über sie kenne, füllen. Sie stehen nun peinlich berührt neben ihren Frauen, Freundinnen, ihren Familien. Mein Liebster, Ricko, ist auch hier. Seine Tränen fließen ins Leere, wie warmes Wasser in den Abfluss. Er wischt sie sich immer wieder aus den geröteten Augenwinkeln. Unsere gemeinsame Zeit war viel zu kurz! Ich würde mich gerne an ihn kuscheln und ein letztes Mal seine Lippen auf meinen spüren.

Die Worte des Trauerredners dringen sanft an mein Ohr. Mehr als ein Gemurmel kann ich allerdings nicht verstehen. Bella und zwei Männer der Mordkommission stehen etwas abseits und beobachten die Trauergesellschaft. Die Urne mit der Asche gleitet vorsichtig in die Erde.

Bella verlässt den Friedhof. Ich begleite sie. Sie zerbricht sich seit Tagen den Kopf darüber, wer für meinen Tod verantwortlich sein könnte. Sie denkt, dass sie alle meine Kunden kennt, doch von einem habe ich ihr nichts erzählt.

***

Ich kannte meinen Mörder erst seit Kurzem. Alles begann mit einem Anruf. Seine Stimme kam mir irgendwie bekannt vor, ich konnte sie dennoch nicht einordnen. Er stammelte in die Telefonleitung, ich hörte seinen schweren Atem. Es war das erste Mal, dass er ein Mädchen wie mich kontaktierte, das bemerkte ich sofort. Wir verabredeten uns in einer Pension am Stadtrand. Er buchte das Zimmer, bezahlte es im Voraus und informierte mich über die entsprechende Zimmernummer.

Die Pension war mir sehr vertraut. Ich nickte dem Portier knapp zu und folgte den Treppen nach oben in den zweiten Stock. Meine Stöckelschuhe klackerten über den Steinboden. Ich klopfte drei Mal an die Türe und wartete. Als er aufmachte, wusste ich sofort, um wen es sich handelte. Unverkennbar. Im ersten Moment war es mir unangenehm, aber Job ist eben Job. Ich blendete die Realität aus und konzentrierte mich auf meine Arbeit. Er hatte Kerzen entzündet und es roch nach Jasmin. Ein Geruch, den ich nicht ausstehen kann. Obwohl er die Zwanzig schon überschritten hatte, war er unerfahren. Als ich ihn fragte, was er sich vorstellte und die jeweiligen Preise meiner Services nannte, überzog sich sein Gesicht mit einer Röte, die mich an reife Kirschen denken ließ. Ich legte meinen Mantel ab und setzte mich bekleidet in einem knappen Negligé neben ihn auf das Sofa. Seine Hände zitterten.

„Du bist so schön“, sagt er. „Darf ich dich küssen?“

„Küssen ist nicht“, antwortete ich und legte meine Hand auf seinen Oberschenkel. Er fasste mit seinen rauen Händen ungelenk nach meinen Brüsten.

Ich half ihm dabei sich ausziehen und spürte seine Erektion an meinem Bauchnabel. Er legte sich auf das Bett. Ich kniete zwischen seinen Beinen. Als ich das Kondom überstülpen wollte, ergoss er sich frühzeitig über meine Schenkel.

„Kein Problem“, versicherte ich ihm und grinste innerlich. „Macht dann fünfzig Euro. Ich nehme es mir auch gerne selbst. Wo ist deine Geldbörse?“

„Hinten, in meiner Hosentasche.“

„Hast nur nen Hunni. Ich kann nicht rausgeben. Ich nehm ihn mir, hast noch was gut bei mir.“

Ich schnappte mir meinen Mantel und ging.

„Ich melde mich verlässlich bei dir“, hörte ich noch, bevor die Türe hinter mir ins Schloss fiel.

***

Bella verlässt gerade ihr Haus. Es ist bereits dunkel. Der sichelförmige Mond steht über ihr. Sie folgt einem Pfad, der direkt an das Elbufer führt. Dann verlässt sie den Weg und watet durch kniehohes Gras. Sie erreicht den Strand. Unweit fand mich ein Spaziergänger, in Begleitung seines Hundes, fein säuberlich in einen schwarzen Müllsack verpackt. Der Tatort ist immer noch abgesperrt.

Bella sieht sich um, hängt ihren Erinnerungen nach. Sie setzt sich auf einen Stein, zieht ihren Wollschal enger. Ein kühler Wind hat eingesetzt. Sie starrt angestrengt auf die Elbe, als würde sie darin Antworten finden können. Endlich erhebt sie sich. Sie hört ein Knacken und horcht in die Nacht hinein. Eine unheimliche Stille legt sich über die Umgebung. Bellas Härchen an Armen und Beinen recken sich in die Höhe.

***

Ähnlich erging es mir vor ein paar Tagen. Ich hatte mich mit Ricko in einem Café am Stadtrand verabredet. Als seine Frau anrief, eilte er wie ein Katzenjunges, das von der Mutter gerufen wurde, nach Hause und ließ mich zurück. Ich trank meinen Kakao aus, bezahlte und machte mich auf den Weg zur Bushaltestelle. Es war dunkel, kaum ein Stern war am Firmament erkennbar. Ich bog in eine unbewohnte Seitengasse ein, eine Abkürzung, die ich schon viele Male genommen hatte. Mir war kalt und ich knöpfte meinen Mantel zu. Plötzlich verspürte ich eine Enge um den Hals, die ich mir nicht erklären konnte. Dennoch war sie da. Meine Schritte wurden schneller. Dann blieb ich stehen. Am Ende der Gasse lehnte jemand an der Hauswand. Ich sah mich um, überlegte, ob ich umkehren sollte. Dann nahm ich meinen Mut zusammen und ignorierte die aufkeimende Panik in meinem Innersten. Ich näherte mich der Gestalt, die sich von der Wand abstieß und mir entgegensah.

„Hallo Prinzessin, du bist mir noch etwas schuldig!“, sagte er in einem Ton, der mein Blut zum Stocken brachte.

Ein eiskalter Schauer zog sich von meinem Scheitel bis in die letzten Winkel meiner Zehenspitzen.

„Hast mich wohl schon vermisst?“, fragte er und drängte mich gegen eine hohe Steinmauer.

Ich wusste, dass ich keine Chance hatte und machte, was er von mir erwartete. Bevor er sich verabschiedete, flüsterte er mir ins Ohr, dass er mich lieben würde und wir uns bald wiedersehen würden. Ich sah ihn öfter, als mir lieb war!

 ***

„Was machst du hier?“

Seine kühle Stimme lässt Bella zusammenfahren. Nun steht er wie aus dem Nichts gekommen, breitbeinig mit verschränkten Armen vor ihr. Er ist so nah, dass sie seinen Atem riechen kann.

„Ich hab dich was gefragt! Antworte gefälligst!“

Sie fühlt sich unwohl in seiner Nähe, sucht nach einem Fluchtweg. Er ist so anders als sein Vater.

„Ich weiß nicht. Ich …“, stammelt sie und verstummt. Eine unheimliche Stille legt sich über beide. „Du warst es! Ja, sicher. Warum bin ich da nicht gleich draufgekommen …“

„Halt`s Maul!“

Bella sieht ihm unverwandt in die Augen.

„Du hast sie geliebt, oder? Ich habe dich gesehen. Vor ein paar Wochen, als du aus dem Tabakladen kamst und ihr nachgesehen hast.“

Er blickt zu Boden.

„Ich hätte alles für sie getan! Aber sie wollte ja nicht. Ich konnte es nicht ertragen, dass sie ausgerechnet mit meinem …“

Er lässt die Arme nach unten fallen und blickt Bella mit glasigen Augen an. Sie legt vorsichtig ihre rechte Hand auf seine Schulter.

„Was ist passiert?“

„Ich wollte doch nicht … Aber als ich sie mit meinem Vater zusammen im Bett meiner Eltern sah, dachte ich, ich müsste sterben. Als sie ging, bin ich ihr gefolgt …“

Seine Stimme bricht und Bella nimmt ihn vorsichtig in die Arme. Er schluchzt.

„Es tut mir so leid! Ich wollte sie nicht umbringen!“

Bella wiegt ihn sanft, wie ein Kleinkind, in ihren Armen.

„Jetzt ist es zu spät“, meint sie ohne Nachdruck.

Lenni, Rickos Sohn, löst sich aus ihrer Umarmung.

„Ich weiß. Ich kann es nicht wieder gut machen. Nie!“

„Aber du kannst jetzt das Richtige tun!“

Lenni sackt zusammen und kniet den Kopf gesenkt am Boden. Seine Tränen vermischen sich mit dem Sand des Elbufers. Er kramt in der Jackentasche nach seinem Handy.

„Ruf bitte die Polizei an! Vater, er wird mich umbringen …“, bringt er krächzend hervor und reicht Bella das Mobiltelefon.

Während Bella die Exekutive informiert, fühle ich mich plötzlich leicht wie der Wind. Ein himmlischer Friede kommt über mich, hüllt mich ein und trägt mich fort.

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