Von Renate Oberrisser

Der verborgene Zugang öffnete sich selten. Normalerweise wurde das große Tor vorm Haus benützt und nicht die unauffällige Pforte an der Seite. Doch dies war so ein Tag. Die Tür öffnete sich einen Spalt und heraus blinzelte ein junges Mädchen. Ausgelassen hüpfte sie über den kleinen Treppenabsatz. Sie bewunderte die Rosenstöcke und erfreute sich an der Blütenpracht. Neugierig ging sie weiter über den schmalen Weg, der am Gebäude entlang führte. Sie lief über den Rasen bis zum Zaun. Blickte rüber in eine verlockende Welt und ahnte nicht, wohin dieser erste Schritt aus der Seitentür sie führen würde. Welche Abenteuer sie bestehen musste und ob sie jemals wieder zurückkehren könnte, in ein ihr vertrautes Leben. Als die unscheinbare Tür hinter ihr zufiel, kletterte sie über den Zaun und ging entschlossen diesen unbekannten Weg. 

 

Die ersten Schritte lief sie voller Übermut. Fast schon hüpfend, tollte sie wie ein junges Kätzchen im Sonnenschein durch das knöchelhohe Gras. Bei jedem Sprung setzte sie einen Fuß vor den anderen. Immer schneller, immer höher, immer weiter. Sie sog die Eindrücke nur so in sich auf. Die Welt war voller Geheinmisse und die Enge des alten Hauses schien in weite Ferne zu rücken. Der geschwungene Pfad führte sie durch blühende Wiesen. Wilde Margeriten und leuchtend gelber Löwenzahn standen in ihrer Üppigkeit im Wettstreit mit der weithin leuchtenden Signalfarbe des scharlachroten Klatschmohns. Immer weiter trugen sie ihre Füße. Sie spürte keine Müdigkeit und die spitzen Steine unter ihren dünnen Schuhsohlen schienen ihre Energie nur noch mehr anzuspornen. 

 

Lauf, lauf, das Leben hat so viel zu bieten. Es wartet nur darauf von dir erobert zu werden. 

 

Ein sanft vor sich hin hinplätschernder Bachlauf beschloss ihr auf der Wanderung Gesellschaft zu leisten. Funkelnd zersprang ein Sonnenstrahl an der kühlen Wasseroberfläche und die abertausend winzig kleinen Tropfen, die an einem Felsen in die Höhe stoben, verwandelten ihn zu einem sich immer wieder erneuernden Regenbogen. Das Mädchen kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Mit vor Neugier und Verwunderung leuchtenden Augen verfolgte sie das Schauspiel und die Vielfalt der Natur. Zu ihren Füßen tummelten sich Ameisen. Ein paar verirrte Schmetterlinge flatterten von Blüte zu Blüte. Bienen summten ihr Lied von Nektar und Fleiß. In der Ferne das Läuten von Glocken, das Muhen der Kühe und das Tuckern von Motoren. Rasch versteckte sich eine aufgeschreckte Eidechse im Schatten eines Steinhaufens am Wegesrand. Ein Eichhörnchen huschte auf den nächsten Baum. Hoch über ihr strahlende Wolken am azurblauen Himmel, der in seiner Weite und Unendlichkeit dem Spatz und dem Adler genauso Raum gab wie einem Papierdrachen, einem Flugzeug und der Menschheit. 

 

Langsam begann das Umland sich zu verändern. Immer mehr Bäume und Sträucher begrenzten den Weg und versperrten den Blick zum Himmel. Die Blumenwiese wich einem immer dichter werdenden Wald. Immer weniger Tiere waren zu sehen. Immer weniger Geräusche drangen an ihr Ohr. Verstohlenes Blätterrascheln ließ Leben erahnen oder war es doch nur der Wind? Stetig begann der Pfad an Höhe zu gewinnen. Hinter so mancher Kehre ein imposanter Ausblick und hinter der nächsten undurchdringliches Dickicht. Der Bachlauf war inzwischen zu einem Wasserfall geworden, der neben den Serpentinen in die Tiefe stürzte. Neue Herausforderungen stellte das Leben und das Mädchen nahm sie an. Voller Eifer kletterte sie höher und überwand so manches Hindernis. 

 

Wachse an den Aufgaben und verliere nie den Mut. 

 

Immer karger wurde die Landschaft. Der Steig verirrte sich im felsigen Untergrund. Das Mädchen begann die Orientierung zu verlieren. Sie wusste nicht, wie lange sie schon unterwegs war. Immer steiler wurde der Pfad, immer höher die Felsen, immer tiefer die Schlucht.  Kein Ziel war in Sicht, kein Ankommen, keine Heimat. Der Himmel, zwischen den Felswänden kaum mehr wahrzunehmen, war von dunklen Wolken verhangen. Wind kam auf und tiefes Donnergrollen erfüllte die Luft, bis ein heftiger Blitz kurz die Dunkelheit und den Blick auf einen schmalen Felsspalt erhellte. Rasch kroch das Mädchen hinein, in der Hoffnung Schutz in einer Höhle zu finden. Eng kauerte sie sich in die kleine Nische, um der Kälte zu entfliehen. Und im nächsten Moment brach ein sintflutartiger Regen los, der alles mit sich fort schwemmte. Jede Hoffnung, jede Zuversicht, aber auch jede Enttäuschung und jeden Schmerz. Das eintönige Rauschen des vom Himmel fallenden Regens, das monotone Trommeln der Tropfen an Felsen, das gurgelnde Plätschern des Wassers, das sich seinen Weg zwischen den Bäumen und Felsen ins Tal sucht, ließen ihre Gedanken abschweifen.  Das Abenteuer Leben hatte sich unversehens in ein Desaster verwandelt. Unvorbereitet eine verkehrte Abzweigung genommen und nicht rechtzeitig umgekehrt. Sie war  müde, so unendlich müde. Ihre Augen fielen zu, vor Erschöpfung und den Herausforderungen der letzten Zeit. Sie glitt in einen unruhigen Dämmerschlaf. 

 

Wie in Trance ging sie durch einen verwilderten Garten, über einen ausgetretenen Fußweg, der zu einem alten Haus führte. Glasscherben und Holzsplitter knirschten unter ihren Schritten. Ein knorriger Rosenstock überwucherte fast zur Gänze die unscheinbar Tür. Sie drang in die Verlassenheit dieses Hortes vor. Ein Spiegel mit goldenem Rahmen lehnte in einer Ecke. Er war mit Staub bedeckt und fast blind. Und doch erkannte sie ihr Spiegelbild darin. Es schien ihr fremd und gleichzeitig so vertraut. 

 

Langsam ging sie durch das Haus. Überall erwartete sie das gleiche Bild von Tristesse. Der Fliesenboden war an vielen Stellen zersprungen. An den noch vorhandenen Möbeln zeigte sich Vergänglichkeit. Tapetenreste lösten sich von den Wänden. Staub und Unrat sammelten sich in den Ecken. An den Wänden hingen einst Bilder, von den Decken baumelten nackte Kabel. Überall in den Zimmern die gleichen Spuren der Entfremdung, ausgenommen in einem. Hier vereinte sich der Zeitenlauf. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie drehte sich um sich selbst  und  lauschte auf alltägliche Geräusche. Doch diese waren schon lange verstummt. Sie wischte sich eine Träne von der Wange.

Es war ihre Lebensgeschichte, derentwegen sie gekommen war. Unbeschadet und unangetastet hatten Teile die  Zeit  überstanden. Diese würde sie nun mitnehmen. Es dauerte, sich an alles zu erinnern. Und mit jedem Bild  nahm sie Abschied von einem ihr vertrauten Leben, in das sie nie mehr würde zurückkehren können. Zu viel war geschehen, zu viel hatte sie gesehen.

 

Vergiss nie, dich an das Gute zu erinnern und dem weniger Guten zu verzeihen. 

 

Wie lange schon saß sie in der kleinen Nische und wartete darauf, dass der Regen nachließ? Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Die Tage gingen in Nächte über und die Zeit verrann. Trotzdem musste das Leben weiter gehen. 

„Steh auf und funktioniere. Setz einen Fuß vor den anderen, egal wohin der Weg dich führt. Du kannst nicht liegen bleiben, wo das Dasein dich niedergestreckt hat“, sagte sie sich. 

 

Sie hob einen abgebrochenen Ast vom Boden auf, entfernte Blätter und kleine Zweige. Der krumme Stock war ihr eine Stütze auf dem regennassen Boden, der sich stellenweise in knöcheltiefen Morast verwandelt hatte. So hantelte sie sich Meter um Meter vorwärts. Wasser strömte nach wie vor aus den Wolken und troff vor ihr zu Boden. Wo waren ihre Wegbegleiter geblieben? Kein Schmetterling an Blumen, keine Eidechse am Wegesrand, kein Vogel am Himmel. Kein Blau, kein Gelb, kein Rot. Mühsam schleppte sie sich weiter. Der Gipfel ließ sich zwischen den Bäumen erahnen. So weit hatte sie es alleine geschafft! Wird sie den Rest auch noch schaffen?

„Geh weiter, schau nicht zurück“, trieb sie sich an. „Schau, bald ist es geschafft. Es ist nicht mehr weit.“ 

 

Schlamm bedeckte in dicken Schichten ihre Schuhe, ihre Kleidung. Jeder Schritt war ein Balanceakt, zwei vor, eins zurück. Der krumme Stock lag morsch und zerbrochen hunderte Meter weit hinter ihr und bot nun Krabbelgetier gutes Quartier. Tapfer kämpfte sie sich  Kehre um Kehre empor. Der Gipfel schien kein Stück näher als zuvor. Der Pfad war bereits nicht mehr zu erahnen. Sie tastete sich um einen großen Felsvorsprung herum. Der Regen ließ nach. Zwischen grauen Wolken zeigte sich ein ebenso grauer Himmel. Der Gipfel versteckte sich schon im Dunkel der beginnenden Nacht.  Sie suchte einen Platz zum Rasten und ahnte, dass der nächste Tag, trotz allem, ein neuer Abschnitt sein würde, auf ihrem Lebensweg.

 

Ganz tief in dir drinnen, sitzt ein kleiner Funke Hoffnung. Er zeigt dir die Richtung, führt dich zum Ziel.

 

Angespannt lief sie durch die sich langsam aufklarende Landschaft, ohne das Rundherum wahrzunehmen. Ein lautes Gezwitscher riss sie aus ihren Gedanken. Sie hob den Blick auf der Suche nach der Ursache der Störung. Verwundert bemerkte sie den Schwarm Vögel, der sich aufgeschreckt aus den Sträuchern erhoben hatte und einer augenscheinlichen Bestimmung zustrebte. Tief beeindruckt von der Leichtigkeit und Anmut des Flügelschlages schaute sie dem Zug der Vögel hinterher und nahm endlich das Aufreißen der Nebeldecke wahr. Sie spürte die ersten Sonnenstrahlen auf ihrer Haut. Atmete die Frische der Luft und tankte die Energie des Augenblicks. 

 

Sie sah sich um und erkannte den Parcours, den zu gehen ihre Bestimmung war und sie ging ihn aufrecht weiter, einem neuen, chancenreichen Tag entgegen.

 

… damals, als sie sich aufmachte, war sie neunzehn. Es folgte eine Zeit voller Überraschungen und Prüfungen und machte sie zu dem Menschen, der sie heute ist!

 

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