Von Agnes Decker

Ich schneide gerade die schwarzen Oliven in kleine Streifen. Die Tomatensoße köchelt und blubbert vor sich hin, erfüllt die Küche mit ihrem unvergleichlichen Duft nach Knoblauch, Oregano und Olivenöl. Neben dem Schneidebrett steht ein halb gefülltes Glas mit Kochwein. Ab und zu nehme ich einen Schluck davon. Unvergleichlich, wie sich die Aromen und der Geschmack des kernigen Roten auf der Zunge vermischen und zu einer sinnlichen Explosion führen.

„Der Briefträger hat ihn abgegeben. Hier für dich, Mams.“ Lars, mein ältester Sohn bringt einen Schwall kalter Luft mit, als er  hereinstürmt und einen dicken Briefumschlag auf den Tisch wirft. „Ich muss dann los, bis später.“ Damit ist er auch schon wieder weg. Lars ist ständig in Bewegung, er rast sozusagen durch sein Leben und ist in allem das krasse Gegenteil von mir.

Ich stelle die Herdplatte auf die niedrigste Stufe, kippe die Oliven in die Soße, verschließe den Topf mit einem Deckel und wische mir die Hände an dem Grubenhandtuch ab, das ich immer statt einer Schürze trage. Dann nehme ich das Weinglas und setze mich an den Küchentisch, auf dem der Umschlag liegt, und betrachte ihn von allen Seiten. Es ist ein normaler weißer DINA 5-Umschlag. Trotzdem beginnt mein Herz heftig zu klopfen. So, als könnte es die Nachricht eines geheimen Verehrers sein, was natürlich völliger Unsinn ist. Diese Zeit ist lange vorbei und der Name, der mit einer Schönschrift geschrieben ist, die man heute nirgendwo mehr findet, ist eindeutig weiblich. Mit einem scharfen Messer schneide ich vorsichtig die Kanten auf, ziehe ein handschriftlich beschriebenes Blatt sowie einen weiteren, versiegelten Brief heraus. Dann beginne ich hastig zu lesen:

Liebe Frau Kirnich,

im Nachlass meiner Schwester, Christina Schwartz, geb. Bergmann, den man mir aus ihrer Wahlheimat Connecticut zugeschickt hat, fand ich den beiliegenden Umschlag mit Ihrem Namen und habe mich an Sie erinnert.

Da Sie in der Zwischenzeit geheiratet haben, hat es etwas gedauert, Sie ausfindig zu machen, aber es ist mir glücklicherweise über das Georg-Büchner-Gymnasium dann doch gelungen.

Christina ist schon im Frühjahr an einer Krebserkrankung gestorben. Mehr aus ihrem Leben ist mir nicht bekannt. Sie hat schon vor langer Zeit den Kontakt zu ihrer gesamten Familie abgebrochen.

Mit freundlichen Grüßen

Gertrud Müller-Bergmann

 

Ich nehme den versiegelten Brief in die Hand. Er erscheint mir wie ein Relikt aus längst vergangenen Zeiten. Aber es passt zu ihr. Chris war auch früher schon eine Romantikerin, und das schien sie immer noch zu sein, bzw. das war sie bis … Meine Kehle wird ganz eng. Chris ist tot. Und mit ihr ein Stück meiner Jugend, ein wichtiger Teil, vielleicht der wichtigste.

Ich schneide den Umschlag auf, ohne das Siegel zu beschädigen. Behutsam nehme ich den darin liegenden Papierbogen heraus.

DU HAST ES VERSPROCHEN! CHRIS. In sorgfältig gemalten Druckbuchstaben steht er dort, dieser Satz.

DU HAST ES VERSPROCHEN! Nur das. Nicht mehr und nicht weniger.

„Versprechen muss man halten. Auf Ehre und Gewissen und für immer und ewiglich“, murmele ich vor mich hin. Mit dem Diabetiker-Piekser meiner Oma hatten wir uns in den Mittelfinger gestochen und unser Blut miteinander vermischt. Chris, meine beste Freundin, und ich. Da waren wir zehn Jahre alt und schon seit der ersten Klasse unzertrennlich.

„Die Zwillinge“, sagte unsere Klassenlehrerin häufig. „Können sich die Zwillinge bitte einmal, statt auf sich, auf meinen Unterricht konzentrieren?“ Und dabei schlug sie mit dem Lineal auf unseren Tisch.

Chris, die Quirlige, die Hübsche. Chris, meine Blutsschwester. Langsam formt sich ihr Bild in meinem Kopf. Langes blondes Haar, das weit über ihre Schultern hängt, das Gesicht mit den vielen Sommersprossen, den fast zu blauen Augen und dem schelmischen Lächeln. Chris. Wie konnte ich nur nicht mehr an sie denken?

Ich nehme einen großen Schluck aus meinem Glas und noch einen und noch einen. Dann stehe ich mit wackligen Knien auf, stelle den Topf mit der Tomatensoße zur Seite und schalte die Herdplatte aus.

Jetzt ist es also soweit. Irgendwo in mir hatte der Gedanke daran geschlummert, tief vergraben unter alltäglichen Freuden und Leiden. Aus dem Zettelhalter nehme ich eins der bunten Blätter, schreibe eine Notiz an meine Familie und deponiere sie mitten auf dem Küchentisch. Dann hole ich mir Jacke und Rucksack, nehme den Autoschlüssel und verlasse das Haus.

Der Friedhof liegt nur wenige Minuten von unserer Einfamilienhaussiedlung entfernt, am Rande eines kleinen Wäldchens. Ich stelle den Wagen ab, steige aus und bleibe vor dem gewaltigen schmiedeeisernen Tor stehen. Die zwei Engel, links und rechts auf ihren Podesten, scheinen mich fragend anzuschauen. So, als wollten sie sagen: Jetzt kommst du, jetzt, wo es zu spät ist.

Schnell lasse ich den Eingang hinter mir und gehe durch die Reihen. Die Grabsteine glänzen noch vom Regen, den der Wind schon seit Tagen durch die Stadt gejagt hat. Gerade, als ich aus dem Auto ausstieg, hatte er aufgehört und jetzt blitzt sogar ein wenig die Sonne durch die dunklen Wolken. Ein leichter Dunst liegt über den Gräbern und taucht sie in ein unwirkliches Licht. Weiter und weiter dringe ich vor. Muss mich konzentrieren. War lange nicht mehr hier. Ich schaue mich um. Außer mir ist niemand zu sehen. Plötzlich muss ich an Gruselfilme denken und erwarte jeden Moment, dass sich eine der Gruften öffnet und ihren schaurigen Inhalt offenbart.

Ich schüttele mich, als könne ich damit auch die düsteren Gedanken abschütteln. Nicht die unheimlichen. Nein, die haben mir eher eine willkommene Ablenkung geboten. Sich über die gelegt, die jetzt an die Oberfläche wollen und die ich zurückgedrängt hatte über die vielen Jahre.

 Ich beschleunige meinen Schritt. Endlich taucht das mit roten und weißen Begonien bepflanzte Rondell auf, in dessen Mitte das Ehrenmal für die gefallenen Soldaten der beiden Weltkriege steht. Jetzt sind es nur noch ein paar Schritte.

Das Grab macht einen sehr gepflegten Eindruck. Die roten Rosen in der eisernen Vase sind frisch. Sogar die schwarze Erde scheint, als hätte sie gerade eben jemand geharkt. Ob Christinas Mutter es tatsächlich nicht … ? Ich bin nur ein einziges Mal hier gewesen. Kurz nach der Beerdigung, aber das ist auch schon einige Jahre her. Damals habe ich geweint. Nicht über seinen Tod. Sicher nicht. Über mich und mein Versagen habe ich geweint.

Ich öffne meinen Rucksack und fische mit der Hand nach dem dicken roten Filzschreiber. Als ich ihn endlich finde, schaue ich mich noch einmal um. Ich bin immer noch allein.

 „Christina ist tot“, schreibe ich auf die helle Grabplatte. Und auf den Grabstein, genau unter den goldenen Schriftzug: „geliebter Ehemann, Vater, Bruder und Schwager“, schreibe ich in ungelenken Buchstaben: „Du Schwein“. Das Rot sieht aus wie Blut und springt mir geradezu ins Gesicht. Dann gebe ich der sorgfältig getrimmten Buchsbaumhecke, die das Grab umschließt, noch einen Tritt und drehe mich abrupt um.

Ich hätte gerne geweint, der Scham und Trauer in mir die Möglichkeit gegeben, sich einen Weg zu bahnen. Aber meine Augen bleiben trocken.

19 Jahre waren wir alt, als sie zum Studium in die Vereinigten Staaten ging, um nie mehr zurückzukommen.

„Es tut mir leid, Chris.“, flüstere ich. „Ich hätte ihn anzeigen sollen, nachdem du weg warst. Ich hatte es versprochen. Jetzt ist es zu spät.“

 

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