Von Emma Zimmermann

Elisa legte die Bögen sorgfältig in die Maschine. Diese monotone Bewegung machte sie nun schon seit drei Stunden. In einer halben Stunde konnte sie in die Pause gehen und nach weiteren vier Stunden hatte sie endlich Feierabend … oder sagen wir mal, Feiermorgen. Es war wieder einer der Samstage, an denen ihre Freundinnen sich um 22 Uhr in einer Kneipe trafen, um eine ausgelassene Nacht zu feiern. Elisa hingegen trat um exakt diese Uhrzeit ihre Nachtschicht an. Sie arbeitete in einem hiesigen Verlagshaus am Fließband und leistete ihren Beitrag zur Erstellung eines Nachrichtenmagazins, das immer montags erschien. Die ganze Schule machte sich in der Zwischenzeit über sie lustig, denn wenn andere in die Disco gingen, ging Elisa zur Arbeit. Doch Elisa hatte sich nicht einfach so für diesen Nebenjob entschieden. Sie verdiente hier mehr Geld als bei irgendeiner anderen Tätigkeit parallel zur Schule, denn sie arbeitete an vier Wochenenden im Monat abwechselnd Spät-, Früh- oder Nachtschicht. Und das machte sie nicht ohne Grund. Sie wollte sich ihren Traum vom eigenen Auto erfüllen. Und es sollte nicht irgendein Fahrzeug sein. Sie hatte ihren Wunschwagen genau vor ihrem inneren Auge, denn sie träumte schon sehr lange von einem alten Mini Cabrio.

Den Führerschein hatte sie seit geraumer Zeit, aber immer mit dem alten Schlitten vom Vater rumfahren, war für Elisa kein Dauerzustand. Endlich zeigte die große Uhr an der Wand sechs Uhr morgens und ihre Nachfolgerin stand schon in den Startlöchern. Müde schnappte Elisa ihre Tasche, ließ noch ein paar Zeitschriften der Folgewoche in derselben verschwinden und machte sich auf den Heimweg. Sie brauchte dringend einige Stunden Schlaf, bevor sie sich dann der analytischen Geometrie widmen musste, denn nächste Woche stand eine Matheklausur auf dem Programm. Wie sie dieses Fach hasste. Wozu sollte sie diesen Mist je nochmal in ihrem Leben brauchen? Das einzig Gute an Mathe war Florian, ihr Sitznachbar. Erstens verstand er die Inhalte, zweitens ließ er sie abschreiben und drittens sah er unheimlich gut aus. Mit seinen dunklen wuscheligen Haaren, den saphirgrünen Augen und dem süßen Grübchen am Kinn ein absoluter Hingucker und der Schwarm aller Oberstufenschülerinnen am Gymnasium. Sie hoffte inständig, dass er sie am Mittwoch wieder unterstützte. So wie beim letzten Mal, als sie hilflos auf dem Bleistift kauend, den Tränen nahe einen Schwächeanfall vortäuschte und das Klassenzimmer für einige Minuten verlassen durfte. In dieser Zeit hatte Florian sich heimlich ihre Klausur geschnappt, die fehlenden Rechnungen blitzschnell ergänzt und, als der Lehrer kurz nach Elisa gesehen hatte, das Blatt, mir nichts, dir nichts, zurückgelegt. Immerhin reichte es für eine Dreiminus. Auf ihren Dank und ihr Angebot, ihn nach der Schule mit dem Auto nach Hause zu fahren, reagierte er jedoch nur mit einem: „Schon ok, kein Problem“ und verschwand mit seinen Freunden in der Raucherecke. Er stand wohl nicht auf sie. Das war deutlich. Und Elisa wusste auch warum. Er bevorzugte Holly. Die blöde Kuh aus dem Kunst-Leistungskurs mit den großen Brüsten und dem Hintern, der auf ein DINA 4 Blatt Papier passte. Für ihr bestes Stück hätte wohl auch ein DINA 3 Blatt nicht ausgereicht. Elisa freute sich auf den Tag, an dem sie das Abitur endlich in der Tasche hatte und sich nicht mehr permanent mit Themen beschäftigen musste, die sie nicht interessierten. Sie wollte raus aus dieser Einöde, die Welt entdecken und neue Leute kennenlernen. Und wer weiß, vielleicht würde sie ja auch eines Tages ihrer großen Liebe begegnen.

 

Bis dahin war es noch ein weiter Weg. Elisa flogen die Dinge nicht so zu wie anderen, sie musste sich alles hart erarbeiten. Sie hatte sich damit abgefunden und war auch ein bisschen stolz auf ihren Ehrgeiz und darauf, ihrem Ziel Wochenende für Wochenende ein Stückchen näher zu rücken. Und sie akzeptierte, dafür auf die wildesten Partys zu verzichten. Manchmal holte sie sogar ihre Freunde nach einer Nachtschicht morgens um sechs Uhr von einer Party ab und fuhr die angetrunkene Meute in der Morgendämmerung mit der alten Karre vom Vater nach Hause. Einmal war sogar Florian dabei gewesen und sie hoffte, dass er nun endlich Notiz von ihr nahm. Aber Fehlanzeige. Florian starrte die ganze Fahrt über wie paralysiert vor sich hin und fummelte dabei an seinem Ring herum. Es war das hässlichste Schmuckstück, das Elisa jemals gesehen hatte. Wieso trugen Männer in dem Alter überhaupt einen Ring? Elisa konnte so etwas nicht verstehen.

 

Pünktlich zu Elisas neunzehntem Geburtstag, war es schließlich soweit. Nach langer Suche im Internet und etlichen Telefonaten hatte sie ihren Traumwagen ausfindig gemacht. Er war weinrot. Ein Unfallwagen, wie man ihr erklärte. Das beeinträchtigte Elisas Euphorie allerdings nicht. Immerhin konnte sie so einen guten Preis verhandeln. Als sie das Gefährt zum ersten Mal sah, spürte sie ein Kribbeln am ganzen Körper, so freudig nervös war sie gewesen. Sanft strich sie über die glänzende Motorhaube, als würde sie einem neuen Lebewesen guten Tag sagen. Mit Schwung öffnete sie das Verdeck und ließ sich auf die alten schwarzen Ledersitze fallen, die den Geruch der großen weiten Welt in sich verbargen. Die Sitze erzählten eine Geschichte, denn an manchen Stellen hatte das Leder schon ordentlich eines abbekommen. Aber das störte Elisa nicht. Im Gegenteil. Sie freute sich auf viele spannende Momente mit ihrem neuen Freund.

 Stolz zündete sich Elisa eine Zigarette an, atmete den Rauch tief ein und blies ihn in kleinen Kringeln in die Luft. Dann drehte sie das alte Radio an und legte eine Kassette in das Laufwerk, denn das Retro-Auto hatte auch noch eine uralte Musikanlage. Glückselig startete sie den Motor und drückte das Gaspedal durch. Begleitet von Highway to Hell fuhr sie mit wehenden Haaren in Richtung Autobahn. Heute würde Florian ihr mit Sicherheit mehr Beachtung schenken.

An der Auffahrt zur A5 stand plötzlich ein gutaussehender Typ und hielt ein Pappschild mit der Aufschrift „Bitte mitnehmen“ in die Luft. Elisa bremste und hielt auf dem Seitenstreifen. Nur zu gut kannte sie diese Situation noch aus ihrer Jugend. Auch mahnende Worte ihrer Eltern hielten sie damals nicht vom Trampen ab, denn auf dem Land hatte man sonst keine Chance in die Stadt zu gelangen. Und nachts fuhren keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr in das Hundertseelenkaff. Elisa ließ das Fenster runter und fragte neugierig: „Wohin willst du?“

„Einfach nur weg, am besten in eine neue Zukunft“, sagte der sympathische Blonde und strich sich eine lockige Haarsträhne aus dem Gesicht.

Elisa lächelte verzückt, beugte sich rüber zum Beifahrersitz und öffnete die Tür. „Dann halt dich fest“, sagte sie und fuhr mit quietschenden Reifen davon.

 

 

 

V2, 6757