Von Miklos Muhi

Ich war mal Neunzehn, aber jetzt heiße ich offiziell Paul Degen. Das kann ich mit allen nötigen Dokumenten auch belegen: Geburtsurkunde, Personalausweis und Führerschein. Der Letztere klingt in meinem Fall etwas merkwürdig, aber man kann da nichts machen.

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Meine Geschichte und die meiner verstorbenen Brüder fing in den wirren Zeiten der frühen 90er in der Sowjetunion an. Das Riesenreich lag im Sterben als der Mann, der mich gewisser Weise in die Welt setzen wollte, mit einer hübschen Stange Geld nach Moskau geflogen war. Die D-Mark-Scheine öffneten ihm alle Türen, einschließlich die der Asservatenkammer der KGB. Ein General persönlich übergab ihm, was er wollte, liebevoll in Geschenkpapier eingepackt. So kam eine wichtige Kriegsbeute zurück nach Deutschland.

In einem verlassenen Labor der Stasi machte man sich an die Arbeit. Der Erfolg war anfangs mäßig. Die ersten Zellen teilten sich gar nicht und starben nach kurzer Zeit ab. Mit besserer Technik kamen die ersten Embryonen mit Missbildungen.

Jede Zelle erhielt eine Nummer. Sechzehn wurde schon geboren, starb aber nach einigen Stunden. Siebzehn überlebte ein Jahr und erwies sich als schwer behindert. Achtzehn war ganz gut gelungen, aber die Leitung des Kreises »Alternative Wahrheit« wollte alles ideologisch korrekt durchziehen. So wurde Achtzehn nicht geimpft und starb an einem schlimmen Fall von Masern.

Bei mir, Neunzehn, klappte alles. Sogar die Chemikalien, die meine Entwicklung beschleunigen sollten, vertrug ich gut. Sie wirkten sowohl im körperlichen als auch im geistigen Sinne. Die Spinner, die sich als Wissenschaftler betrachteten, waren mit meinen körperlichen Fortschritten unzufrieden. Was mein Gehirn betrifft, wirkte das Zeug Wunder. So hatte ich bald genug Grips, dieses Detail für mich zu behalten und zu begreifen, was von mir erwartet wurde. Ich war auf diese Idioten angewiesen, denn ich hatte keine Papiere und trotzdem hatte ich nicht die geringste Lust, ihre Erwartungen zu erfüllen.

Mir wurde klar, wie abgedreht diese Garde war: Gut ausgebildet, technisch versiert, aber ohne kritisches Denken oder irgendeine Art von Gewissen, wirkten sie auf mich wie eine Zirkusnummer untalentierter Clowns, die erschreckende Ähnlichkeiten mit einem gewissen (wenn auch fiktiven) Pennywise aufwiesen.

Nachdem ich ihre Methoden der Verdrehung der Wahrheit durchblickt hatte, war es einfach, die Lügen aus der Informationsflut auszufiltern. Bald wusste ich, wie ich entkommen konnte.

Körperliches Training stand auch auf dem Lehrplan. Das hatte ich gemocht, denn es war unideologisch. Wenn ich heute 100 kg stemmen konnte und in einer Woche 120 kg, dann gab es klare Fortschritte und jeder war zufrieden. Ich musste nicht die Wahrheit hinter den Wörtern suchen. Muskelkater und Müdigkeit hin oder her: Die Stunden im Trainingssaal waren eine Erholung.

Das harte Training hatte seine Spuren hinterlassen. Für mich waren die stahlharten Muskeln nur das natürliche Ergebnis der Anstrengungen, ein Teil meines Körpers und nicht der Rede wert. Bald hatte ich jedoch bemerkt, dass man damit viel erreichen konnte, und zwar ganz ohne Gewalt.

Zum Kreis gehörte eine Dame, Beamtin eines Einwohnermeldeamtes. Sie sorgte dafür, dass Mitglieder des Kreises unter falschem Namen Dokumente ausgestellt bekamen. Das war nützlich, wenn man von den Behörden gesucht wurde.

Sie strengte sich ganz doll an, gleichgültig zu wirken, aber ihre Blicke verrieten mehr als genug, als sie immer öfter aus Versehen in den Trainingsraum platzte. Trainiert wurde immer mit nacktem Oberkörper und in kurzen Hosen. Ihre »Entschuldigung, ich habe mich verlaufen« dauerte immer länger und es kam öfters vor, dass sie sich wieder auf die gleiche Weise verlaufen hatte.

Ich musste nur unter vier Augen ihre Hände nehmen und sie um den Gefallen bitten. Bald hatte ich alle nötigen Papiere in der Tasche. Die von ihr erwartete Gegenleistung (versprochen habe ich ihr nichts), bekam sie nie. Bald darauf hatte sie das ganze Amtsgebäude, wo sie gearbeitet hatte, abgefackelt (einschließlich Archiv und Serverraum) und sich erhängt, kurz vor einer angekündigten Revision der Aufsichtsbehörde.

Daraufhin wurde eine Vollversammlung des Kreises einberufen und während sich die Pennywise-Clowns berieten, war ich abgehauen. Ein Anruf bei der Polizei aus einer Telefonzelle genügte: Ich konnte sagen, wo die Waffen gelagert waren, wie man ins Labor kam und wo das Meth zur Finanzierung des Unternehmens gekocht wurde.

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Paul Degen hat ein prall gefülltes Bankkonto. Das Geld darauf fehlt aus den Kassen des Kreises, aber die könnten damit im Knast eh nicht viel anfangen.

Zuerst bin ich in eine Privatklinik gegangen, um die versäumten Impfungen nachholen zu lassen. Dann habe ich mir eine Wohnung gemietet und mit der Suche nach einem Ausbildungsplatz angefangen.

Vielleicht werde ich später studieren. Ich denke an Medizin oder Sport. Architektur oder Kunst kommen nicht infrage, genauso wenig wie eine Karriere beim Bund. Ich weiß nicht, ob das, was mir die Clowns erzählt haben, stimmt oder nicht. Wenn der korrupte oder einfach nur hungrige KGB-General damals wirklich den Schädelknochen von Adolf Hitler aus der Asservatenkammer herausgerückt hat und ich daraus durch Klonen entstanden bin, dann ist das nichts für mich.

 

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