Von Theres Pötzsch

Wir hatten uns im Spätherbst nach einer durchfeierten Nacht kennengelernt, fünf Uhr morgens im Flowerpower, dieser kitschigen und ständig überfüllten Rockkneipe, wo eine kleine Plastikkuh an einer Seilbahn befestigt ewig ihre Runden über die Tische dreht. Beide waren wir dort mit Bekannten gelandet, die wir auf irgendeiner Party getroffen hatten. Er merkte, dass auch ich mich langweilte, sprach mich mit einem Kompliment an, so direkt, wie ich es sonst nur Südländern zutraute, und lud mich auf eine grässliche Margarita ein. Ich folgte seiner nächsten Einladung, diesmal auf einen Kaffee, nach oben in die WG, wo die Musik aus dem Flowerpower immer noch so laut war, als stünde man auf der Straße davor.

Micha war Dozent an der Uni und lehrte Italienisch. Ich gab mich als Germanistikstudentin aus und machte mich ein Jahr älter und er behauptete, ich sei sehr erwachsen für mein Alter. Er fragte mich über mein Studium aus und ich antwortete routiniert, denn mein Bruder studierte Germanistik im fünften Semester. Sogar die Namen der Dozenten hatte ich mir gemerkt und Micha kannte den einen oder anderen. Als ich schon glaubte, ich müsste vor Müdigkeit im Sitzen einschlafen, küsste er mich. Später, es war schon am Vormittag, verabredeten wir uns für den nächsten Tag und ich ging nach Hause. Wir hatten in seinem Bett nur gedöst. Jede Neunzehnjährige wusste, dass man nicht gleich mit einem Mann schläft, wenn man ihn an sich binden möchte.

 

Irgendwann hatte ich keine Lust mehr, von dem ausgedachten Germanistikstudium zu erzählen und sagte ihm, dass ich Abiturientin war, immerhin schon neunzehn, wegen des Auslandsjahres nach der zehnten Klasse. Micha tat schockiert, aber eigentlich törnte es ihn an. Er wurde noch zärtlicher und hatte eine Ehrfurcht, als sei mein junger Körper heilig, aber das war er nicht. Schon früh hatte ich mich Männern hingegeben – einer Reihe von Geliebten und manchmal auch Fremden.

Solange ich mich nie von selbst meldete und ihn bestimmen ließ, sahen wir uns regelmäßig. Wir gingen zusammen aus, in Bars oder Clubs, manchmal zu Konzerten und wenn wir am Sonntagmittag bei ihm aufwachten, kochten wir zusammen. Nur selten bekam ich Michas Mitbewohner zu Gesicht, an dessen Name ich mich nicht erinnere und den Micha immer nur „Käpt´n“ nannte. Wenn er kurz in die Küche kam, sah er mich stirnrunzelnd an, sagte nichts und nahm sich schnell, was er brauchte. Hinterließen wir die Küche schmutzig, hatte er sie schon geputzt, wenn wir Stunden später sauber machen wollten. Manchmal rief Micha mich abends an und erzählte mit leiser, ruhiger Stimme von seinem Tag. Ich hörte ihm gerne zu, denn wir hatten nicht viel Gesprächsstoff, jetzt, wo wir uns nicht mehr über die Uni unterhalten konnten.

Irgendwann wollte ich Micha häufiger als ein, zweimal pro Woche sehen. Zuvor hatte er die Treffen arrangiert und jetzt war ich es, die sich meldete, scheinbar spontan und an Abenden, die ich für ihn freihielt. Ab jetzt trafen wir uns ungeplant, weit nach Mitternacht und immer bei ihm, als könnten wir uns nur noch treffen, wenn wir wirklich nichts Besseres zu tun hatten. Einmal begegneten wir Bekannten von ihm, was ihm furchtbar peinlich war. Danach wollte er mich nur noch in seiner WG treffen. Für jeden hätte es längst offensichtlich sein müssen, dass er nie mein Freund sein würde, nur ich wollte das nicht erkennen.

Er fuhr über Weihnachten zu seinen Eltern und wir skypten mehrmals. Vielleicht bin ich doch seine Freundin, dachte ich. Den ganzen Januar über sahen wir uns nicht. Er sagte in letzter Minute ab oder war an dem Tag, an dem wir uns treffen wollten, nicht erreichbar. Ich war erst verletzt, dann aufgelöst. Am ersten Februar war ich wütend. Ich schrieb eine SMS und verlangte nach einem Gespräch. Falls es stattfand, würde es unser letztes Treffen sein. Ich würde ihm sagen, dass man so etwas nicht mit mir macht – erst Hoffnung schüren und dann einfach verschwinden. Seine Erklärungen würde ich mir nicht anhören, ich würde einfach gehen und ihn sprachlos zurücklassen.

Seine Antwort kam schon nach fünf Minuten: „Klar, passt es morgen Abend? Ich freue mich, M.“

Mein Plan ergab plötzlich keinen Sinn mehr.

 

Am nächsten Tag stieg ich gegen zwanzig Uhr die abgewetzten, knarzenden Holzstufen zum zweiten Stock hoch und starrte nur auf die Stufen vor mir. Im Treppenhaus roch es nach Holzpolitur, Schimmel und nassem Hund. Micha erwartete mich an der Wohnungstür und schien bester Laune zu sein.

„Ich habe heute den ganzen Tag nichts gemacht! Ich meine, ich habe meine Flüge für den Sommer gebucht und meine Wäsche gewaschen, aber ansonsten …“

Von der Reise wusste ich nichts. Er hastete in die Küche und ich hörte die Waschmaschine losrattern. Jedes Mal flüchtete er vor mir, als könnte er mich so lange nicht zu Wort kommen lassen, bis er sich Herr der Situation fühlte. Ich trottete in die Küche, wo er auf der ratternden Waschmaschine saß und mich strahlend anlächelte, vielmehr lachte er mich an, denn er lächelte nie, ohne dabei zu lachen. Ich verspürte das Bedürfnis, gute Laune vorzutäuschen, ich konnte gar nicht anders, also lächelte ich zurück. Vergeblich wartete ich auf sein stets verspätetes „Wie geht’s?“.

„Weißt du, es ist sehr angenehm, auf der Maschine zu sitzen. Eine Massage für den Hintern.“

Wieder lachte er und ich lachte mit. Da ich keine Anstalten machte, das Gespräch zu beginnen, stand er auf und ging zum Küchenschrank.

„Espresso?“

„Gerne.“

Er holte die Dose mit dem gemahlenen Kaffee aus dem Küchenschrank, schüttete ihn über der Spüle verschwenderisch in das Sieb der Mokkakanne, wobei die Hälfte daneben ging. Anstatt den Kaffee fest in das Sieb zu drücken, schraubte er das Oberteil einfach schnell über das untere Teil und verschüttete dabei noch mehr.

Die Kanne war in der Spüle nass geworden und zischte auf dem Herd. Micha thronte wieder auf der Waschmaschine, ein Clown, der keine Lust auf ein ernsthaftes Gespräch hat. Als mein Kaffee fertig war, schlug er vor, auf sein Zimmer zu gehen und lief mit meinem duftenden Kaffee voraus. Er setzte sich sehr dicht neben mich auf das Sofa, machte Anstalten mich zu küssen, aber ich drehte den Kopf weg und schlürfte meinen Kaffee. Micha sah zu seinen Füßen.

„Also, du wolltest mit mir reden“, sagte er.

„Genau. Ich wollte … Ich wollte dir sagen, dass es mir nicht gefällt, wenn du mir dauernd kurzfristig absagst. Oder nicht antwortest, wenn wir eigentlich verabredet sind, wie am Sonntag. Ehrlich gesagt glaube ich, dass du mich nicht mehr sehen willst.“

„Moment mal, wegen der Sache am Sonntag habe ich mich doch schon entschuldigt. Wieso denkst du, dass ich dich nicht mehr sehen will? Sag so etwas doch nicht.“

„Aber du gibst mir das Gefühl. Ich denke, dass du mich nicht ernst nimmst, wenn wir uns eigentlich treffen wollen, du dann aber vorher das Handy ausschaltest.“

„Entschuldigung, ich wollte nicht, dass du dich schlecht fühlst. Ich dachte, du willst Bescheid sagen, wenn es noch klappt.“

Er umarmte mich und ich ließ es geschehen, obwohl ich ihm nicht abnahm, dass ihm wirklich etwas leidtat und nicht mochte, wie er aussprach, dass ich mich schlecht fühlte, als wüsste er, wie sehr er meine Gedanken beherrschte. In fast weinerlichem Ton wiederholte er: „Es tut mir leid. Nimmst du meine Entschuldigung an?“

„Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Zeig mir einfach, dass du es ernst meinst. Worte allein verändern doch nichts.“

„Okay, du hast Recht. Lass uns gleich ausmachen, wann wir uns das nächste Mal sehen. Morgen kann ich nicht … Donnerstag?“

„Ich muss doch Freitag früh raus.“

„Dann lieber nicht. Freitagabend?“

„Da bin ich zu Freunden eingeladen und Samstag habe ich auch schon etwas vor.“

Das waren glatte Lügen und ein halbherziger Versuch, meinen ursprünglichen Plan durchzuziehen.

„Samstag bin ich auch schon verplant. Also nächste Woche?“

„Moment, wie wäre es denn Sonntag früh um vier im Flowerpower?“

„Wir können es versuchen.“

Er lachte und ich musste kichern, von einer plötzlichen Wallung des Glücks durchströmt. „Das ist schon bescheuert, oder?“, prustete ich.

„Was meinst du denn?“

„Dass wir uns nach dem Feiern treffen, damit es überhaupt klappt.“

Er zuckte nur mit den Schultern, sein Vorschlag war es schließlich nicht.

„Also, verzeihst du mir jetzt?“, fragte er und küsste mich. Ich lachte und ließ es geschehen und war glücklich, nur ein hinterer Teil meines vernebelten Hirns ließ mich ahnen, dass ich Teil eines Spiels war, das ich nicht durchschaute.

„Mal sehen.“

„Und jetzt?“

Von meinem Mund aus küsste er mein Gesicht, dann den Hals.

„Vielleicht“, sagte ich und fand mein eigenes Kichern blöd. Als er sich von mir löste, um seinen Pullover auszuziehen, nutzte ich den kurzen, klaren Moment, in dem mir sein Geruch, seine Lippen und seine Zunge nicht den Verstand betäubten und stand auf.

„Was ist denn los?“, fragte er.

„Ich muss gehen. Ich habe ja gesagt, dass ich nicht lange bleiben kann.“

„Ach so … Dann musst du wohl losmachen“, bemerkte er, zog seinen Pullover wieder an und stand ebenfalls auf. Ich hatte gehofft, er würde mich bitten zu bleiben oder wenigstens nach dem Grund fragen, warum ich gehen musste. Stattdessen begann er, Wäsche aus einem Plastikkorb zusammenzulegen und zu stapeln und wirkte dabei sehr ernst und konzentriert, als ob er mit den Gedanken schon bei der übernächsten Sache und längst nicht mehr bei mir war.

Ich zog mir im Flur Jacke und Schuhe an, dann steckte ich meinen Kopf zur Zimmertür herein.

„Na, dann … Bis Sonntagmorgen vielleicht“, sagte ich betont lässig.

„Genau, bis bald.“

Er begleitete mich zur Wohnungstür und küsste mich zum Abschied flüchtig auf den Mund, berührte kaum meine Lippen. Ich eilte die Treppe hinunter, hielt den Blick geradeaus. Vielleicht stand er noch an der Wohnungstür und schaute mir nach, so wie er es meistens tat.

Aus dem Flowerpower dröhnte schon Rockmusik, einige Besucher standen rauchend davor und unterhielten sich lautstark. Wieder einmal wunderte ich mich, wie Micha bei dem Lärm schlafen konnte. Ich schaute zwei Stockwerke nach oben und erkannte den Schatten, den er an die Vorhänge warf. Ich kann mich erinnern, dass ich dachte: Bestimmt legt er noch seine Sachen zusammen und pfeift dabei.

 

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