Von Peter Burkhard

Die Gartenarbeit vom Vormittag hat mich geschafft, meine alten Glieder schmerzen. Seit einer halben Stunde gönne ich mir etwas Ruhe im Schatten meines Gartens und überfliege ohne Hast die Seiten des Regionalblattes. Zwischendurch beobachte ich die vertrauten Spatzen beim Staubbad oder starre auf meine verschwitzten, nackten Füsse, welche über das Ende der Sonnenliege hinausragen.
Die Hitze staut sich zwischen den Hecken und die Sonne knallt derart stark vom Himmel, dass sie mich durch den verbleichten Stoff des Sonnenschirms hindurch zu blenden vermag. Das alles macht mich träge.
Ich wollte lesen, um mich zu entspannen, aber die immer gleichen Meldungen interessieren mich nicht mehr, sie öden mich an. Geistesabwesend streift mein Blick die Traueranzeigen und bleibt an einer schlicht gehaltenen Mitteilung hängen: «Ist unsere liebe Mutter, Grossmutter und Urgrossmutter Anna Pfefferkorn wenige Tage vor ihrem 82. Geburtstag friedlich eingeschlafen.»

Anna Pfefferkorn, der Name reisst mich aus meiner Lethargie. Ich lese die Namen der Trauernden und lasse die Zeitung sinken. Zweiundachtzig, das muss sie sein. Anna.

* * *

Die traurige Nachricht, die ich in Händen halte, trägt meine Gedanken an die Stätte eines vor langer Zeit erloschenen Feuers. Sie vermögen es nicht mehr zu entfachen, doch wirbeln sie die Asche auf, wecken Erinnerungen, als hätte es die Jahre dazwischen nie gegeben.
Und du Anna, hattest du dich in den letzten fünf Jahrzehnten je an die Flammen des Sommers 1970 erinnert?

Ich war neunzehn, du einunddreissig.
Damals wohntest du mit Paul und deinen beiden kleinen Mädchen zwei Etagen unter uns im Erdgeschoss unseres Wohnblocks.
Über Monate, wenn nicht Jahre, begegneten wir uns zufällig und nur flüchtig im Treppenhaus. Auch dann noch, als meine verstohlenen Blicke länger an dir haften blieben und weniger diskret.
Dann kam jener Frühlingsnachmittag, als du mich in einem luftigen Sommerkleidchen am Fusse der Treppe aufhieltest und in deine Wohnung batest. Oder locktest, ich denke, das trifft es besser.
Mit deinem untrüglichen Gespür und dem Plus an Erfahrung einer zwölf Jahre reiferen Frau, war dir meine kaum mehr verhehlte Bewunderung nicht entgangen.
„Bist du in mich verliebt?“, fragtest du mich ohne Umschweife und schienst dir dabei meiner Antwort gewiss.
Überrumpelt und jäh durchflutet von bis dahin unbekannten Glücksgefühlen zappelte ich am Haken.
War es allein deine Aura, die dein Interesse an mir erstrebenswert machte, oder der Altersunterschied, der in diesen Momenten meiner Fantasie Nahrung gab? Ein Fiasko wär’s auf jeden Fall gewesen, hätte ich in diesem Moment der Irritation die falschen Worte gewählt. So blieb mir nur, dir meine Empfindungen offen zu gestehen:„Ja, ich glaube schon!“
Tags darauf ludest du mich ein, dich bei einer auswärtigen Besorgung im Auto zu begleiten. So kam es zu unserem ersten gewagten Zusammensein zu zweit. Ich musste den Puls in sämtlichen Adern gespürt haben, als ich zusagte. Dass ich diese Ausfahrt voller Hemmungen antrat, wen wundert’s, doch auch du verhieltest dich eigentümlich förmlich, fast scheu. Heute ist mir, als ob du damals versucht hättest die Echtheit meiner Gefühle auszuloten. Bereits keimten bei mir erste Zweifel an unserem Tun auf, als du – schon fast wieder zu Hause – am Eingang eines winzigen Parks anhieltest.
Von da an war ich dir verfallen.
Binnen kürzester Zeit entwickelte sich eine Liebschaft, die geprägt war von Verlangen, Leidenschaft und was mich betrifft, von schleichend zunehmender Abhängigkeit. Du jongliertest gekonnt mit meinen Gefühlen wie mit Bällen und ich hatte nur den einen Wunsch, dass du die Bälle nicht fallen lässt.
Hattest du, Anna, später je wieder daran gedacht, wie wir uns öfter zu verschwiegenen Stelldicheins in den Kellerräumen trafen? Oder zu Schäferstündchen in deinen vier Wänden, während Paul den Abend nichts ahnend unter Kollegen verbrachte? Ich zweifle und leise hoffe ich doch, mich zu täuschen.
Heute mag es unglaublich klingen, doch es kam vor, dass du dich unter einem Vorwand in unsere Wohnung wagtest, um mir – im Beisein meiner Familie – klammheimlich eine Botschaft zu überbringen oder auch nur für einen flüchtigen Kuss.
Es war ein brenzliges Vabanquespiel voller Illusionen, bei dem mir nie ganz klar wurde, welche Rolle du mir tatsächlich zugedacht hattest.
Du warst es, die mich Wagnisse eingehen liess, die ich bei klarem Verstand bestimmt ausgeschlagen hätte. Es war eine wunderbare, in höchstem Masse aufregende, wenn auch belastende Zeit, welche gleichermassen abrupt endete, wie sie begonnen hatte.
Wir zogen fort und ich verlor dich für immer aus den Augen.
Mit neunzehn.

Das Feuer mag schon lange erloschen sein, die Bilder unserer Geschichte bleiben zeitlebens bestehen.
Ruhe in Frieden, Anna.

 

V3