Von Monika Heil

Ich war neunzehn, als mein Bruder Uwe seinen fünfundzwanzigsten Geburtstag mit einer Riesenparty feierte. Wir waren, glaube ich, an die dreißig Personen. Eine davon war Anni. Gibt es Liebe auf den ersten Blick? Ja, ja, ja!!!

Nach dem plötzlichen Tod meines Vaters musste Uwe – viel zu jung – unsere Firma übernehmen. Zum Glück gab es Frau Schneider, die langjährige Sekretärin meines Vaters. Sie war und ist eine unglaublich starke Stütze für Uwe. Und sie ist die Mutter von Anni, einer siebzehnjährigen Abiturientin, die in den Ferien im Unternehmen jobbte. Uwe findet sie nett und da lag es nahe, dass sie bei der Fete dabei war.

Ich habe – zum Glück – mit der Firma nichts am Hut. Ich bin Künstler, lebe in einem kleinen Dorf auf Sylt, wohne in einem noch kleineren Häuschen und war – bis vor kurzem – dort wunschlos glücklich. Reichtümer verdiene ich nicht mit meinen Bildern. Deshalb jobbe ich in Westerland als Touristenführer und helfe abends meinem Freund Rainer in seiner Bar. Papa ließ mich – im Gegensatz zu Uwe – stets an der langen Leine. Warum, weiß ich nicht. Ich war halt sein Liebling. Er führte das Unternehmen in dritter Generation und das prägte seinen ernsten Charakter, den Uwe eindeutig geerbt hat.

Ich schweife ab.

Anni und ich hatten viel Spaß auf jener Party, tauschten irgendwann ein paar Küsse und später auch unsere Handy-Nummern aus. Ich fuhr – aufgepumpt mit Glückshormonen – am nächsten Tag nach Sylt und malte, malte, malte. Ich könnte eine Ausstellung nur mit Anni-Bildern bestücken. Wir telefonierten täglich und eines Tages versprach sie, mich zu besuchen. Seither sind wir ein Paar.

 

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Ich war neunzehn, als ich in der Buchhaltung der Firma Lengenbach anfing. Mit fünfundzwanzig wurde ich die Sekretärin des Firmenchefs. Es waren gute Jahre. Leider starb er vor kurzem ganz überraschend und sein Sohn Uwe ist jetzt mein Chef. Wir kommen gut miteinander aus. Bis heute Morgen dachte ich, das ginge immer so weiter. Und dann machte es plötzlich Peng! Die Membrane zwischen Zufriedenheit und Unglücklichsein ist dünn und wenn sie reißt, stürzt man ins Bodenlose. Das habe ich mal in irgend einem Groschenroman gelesen und genau das ist vorhin passiert.

Ausgerechnet in Lars Lengenbach muss sich meine Tochter verlieben. Das geht nicht. Nein, nein, nein! Ich muss mit seiner Mutter sprechen. Sofort! Sie wird mir helfen. Henry, verzeih`. Ich kann nicht anders. Ja, du hast mir damals viel Geld gegeben für mein Schweigen. Unsere kurze Affaire ging bald vorüber. Unser gutes Arbeitsverhältnis blieb all die Jahre intakt. Du wolltest deine Ehe nicht beschädigen. Das verstand und akzeptierte ich. Ich hätte mein Versprechen auch gehalten, aber jetzt kann ich das mit meinem Gewissen nicht mehr vereinbaren. Ich muss diese Ehe verhindern! Um jeden Preis!

 

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Ich war neunundvierzig, als ich Witwe wurde. Viel zu jung und mit einer großen Schuld beladen. Das ist jetzt fast ein halbes Jahr her und ich hatte viel Zeit, über alles nachzudenken und meine Reaktionen zu bereuen. Unzählige verzweifelte Tage und Nächte liegen hinter mir.

Ja, es war ein Fehler, dass ich Henry nicht schon viel früher gestanden habe, dass Lars nicht sein Sohn ist. Warum ich nach zwanzig Jahren endlich die Wahrheit ausspieh? Ich weiß es nicht. Wir hatten einen schlimmen Streit, es war viel Alkohol geflossen und zu viele verletzende Worte gefallen. Dass es das letzte Gespräch mit meinem Mann war, konnte ich nicht ahnen und ich bedaure es zutiefst. 

Noch immer habe ich es nicht geschafft, Lars die Wahrheit zu sagen. Was hätte es gebracht? Sie waren beide Teil meiner Familie. Wer bin ich, dass ich das Recht hätte, dieses – unstreitbar – gute Vater-Sohn-Verhältnis im Nachhinein zu zerstören? Hinzu kommt: Ich habe keinen Kontakt zu seinem biologischen Vater, habe keine Ahnung, wie ich ihn ausfindig machen könnte. Ja ich weiß, jeder sollte die Wahrheit über seine Wurzeln erfahren, seine biologische Familie kennen. W i r waren seine Familie, Henry, mein Mann, Uwe, mein Ältester und ich. Meine Gedanken rasen ständig hin und her zwischen meiner unglücklichen Gegenwart und jener verhängnisvollen Nacht, der am nächsten Tag eine unüberlegte Kurzschlussreaktion folgte.

Frau Schneider, Henrys Sekretärin, hatte mich ins Büro gebeten. Mein Mann hatte – sicher auch in einer spontanen Wuthandlung  – versucht, sein Testament zu ändern. „Mein Sohn erbt alles“, stand auf einem ansonsten leeren Papier. Ich denke, Frau Schneider hat gar nicht begriffen, was das bedeutete. Aber ich! Ich wusste, dass damit Lars enterbt werden sollte. An mich habe ich damals keine Sekunde gedacht. Es ging nur um meinen Sohn. Wahrscheinlich hätte dieser Fetzen vor Gericht gar keinen Bestand, fehlten doch Unterschrift und Datum. Ich kannte das Originaltestament und das sollte seine Gültigkeit behalten. Was blieb mir in jener Situation übrig? Ich nahm den Dokumentenordner und jenes angebliche „Testament“ an mich. Was Frau Schneider darüber dachte, weiß ich nicht, interessierte mich auch, ehrlich gesagt, damals nicht im mindesten. In der Folgezeit hatte ich allerdings manchmal das Gefühl, sie sei mir gegenüber reservierter als früher. Einbildung? Ich weiß es nicht.

Wie auch immer – wir werden uns in Zukunft wohl öfters sehen. Privat. Denn dummerweise hat sich Lars, unser Jüngster, ausgerechnet in Anni, Frau Schneiders uneheliche Tochter verliebt. Bei seinem letzten Besuch sprach er schon von einer gemeinsamen Zukunft. Na ja, meinen Segen hätten die beiden. Sie ist eine sehr nette, kluge und hübsche Achtzehnjährige, die gerade ihr Abitur gemacht hat. Jura will sie studieren.

 

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Ich war siebzehn, als ich mich Hals über Kopf in Lars verliebte. Wir sind nun schon ein Vierteljahr zusammen und ich fühle, er ist der Richtige. Vorhin habe ich Mama endlich gesagt, dass wir uns Weihnachten verloben wollen. So mit allem Drum und Dran. Und was passiert? Mama rastet so was von aus. Ich glaub´ es nicht!

„Das geht nicht!“, hat sie geschrien, ist in Tränen ausgebrochen und schließlich ohne weitere Erklärung aus dem Haus gestürmt. Eben rief Lars an und sagte, meine Mama sei gerade bei ihnen angekommen und habe ganz aufgeregt seine Mutter zu sprechen verlangt. Was soll das nur alles?

 

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Die letzten Tage waren schrecklich. Kopflos war ich an jenem verhängnisvollen Morgen zum Haus der Familie Lengenbach gefahren und legte dort aufgeregt und unreflektiert die Fakten auf den Tisch. Die Frau meines verstorbenen Chefs reagierte zuerst äußerst merkwürdig auf meine Beichte.

„Nun sind wir quitt, Henry und ich“, lächelte sie mokant und warf einen kurzen Blick auf das große Gemälde über dem Kamin.

„Ich verstehe nicht“, erwiderte ich irritiert und dann war die Reihe an ihr, Überraschendes zu erzählen und ich verstand ihre Bemerkung. Wir verabschiedeten uns schließlich mit dem gegenseitigen Versprechen, unseren Kindern endlich und sofort reinen Wein einzuschenken. 

Anni sprach drei Tage nicht mit mir. Was ich auch versuchte, ich kam nicht an sie ran. Sie hockte nur in ihrem Zimmer und heulte. Dann, endlich, stand sie eines Morgens in der Küchentür und wir schafften es mit vielen Tränen, Vorwürfen und mit immer wieder eintretenden Unterbrechungen erneut zueinander zu finden. Lars hörte sich die Erklärungen seiner Mutter beängstigend ruhig an und floh anschließend ohne ein weiteres Wort, geschweige denn weiteren Fragen, in sein Atelier an der Nordsee. Vera Lengenbach reiste ihm nach. Er ließ sie nicht ein und stürzte seine Mutter damit erneut in tiefe Verzweiflung. Anni gelang es schließlich, ihn zu überzeugen, dass er sich öffnen und das Geschehen mit seiner Mutter gemeinsam aufarbeiten sollte. Er kam nach einer Woche zurück. Wie die beiden wieder zueinander fanden, weiß ich im Detail nicht.

 

Gestern rief Frau Lengenbach an und lud Anni und mich zum ersten Advent zu sich ein.

„Wir müssen über die Zukunft reden“, meinte sie. „Alle vier gemienssam.“ Ihre Stimme klang zuversichtlich. Und nun sitze ich hier, denke über die Ereignisse der letzten Wochen nach und lache und weine immer abwechselnd, weiß aber: alles wird gut.

 

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