Von Florian Ehrhardt

Ich räuspere mich bedeutungsschwer und fange an, vorzulesen:

 

Glühwürmchen

 

Glühwürmchen tanzen zu Tausend in ihrem eigenen Licht

Das Einzige, was heller strahlt, ist das Lächeln auf deinem Gesicht

Ich bin so liebestrunken, bald vollkommen dicht

Diese Nacht nur für uns, für immer und ewig, sie endet nicht

 

Tausend Glühwürmchen leuchten für dich

Verwandeln die Nacht zum Tag mit ihrem hellen Schein

Eine schönere als du, das gibt’s nicht für mich

Nur bei dir möchte ich sein

 

Ich sehe Julia erwartungsvoll an.

Sie blickt zurück. Ihre blaugrauen Augen fixieren mich.

Ich kann ihren Blick nicht deuten. „Gut?“, frage ich zaghaft.

Sie beginnt zu lächeln.

Ihr Lächeln ist wunderbar ansteckend, also lächle ich zurück. „Gut?“ Diesmal fester und überzeugter.

Julia beginnt zu lachen. „Das ist furchtbar!“, prustet sie hervor.

Ich versuche meine Stirn in Falten zu legen, aber ihr Lachen ist einfach zu ansteckend. Ich habe nie verstanden, wie jemand Dinge wie „ihr Lachen ist bezaubernd“ schreiben kann. Das ist so kitschig. So platt. Klingt so langweilig und abgedroschen, dass man meint, ein Phrasenschwein aufstellen zu müssen und jedes Mal 5€ reinzuwerfen, wenn einem der Satz wieder irgendwo auffällt.

Ich lache mit ihr, obwohl – oder vielleicht, gerade weil – mein Gedicht furchtbar ist.

Ihr Lachen ist bezaubernd. Ich habe den Satz nie verstanden, zumindest bis gerade eben, denn jetzt weiß ich, wie ein bezauberndes Lachen aussieht. Es gibt kaum eine bessere Möglichkeit, es zu beschreiben, ich versuche es trotzdem nochmal:

Zuerst breitet sich ein Lächeln auf ihrem ganzen Gesicht aus, von einem Ohr zum anderen grinst sie fröhlich, um dann ihre weißen, geraden, perfekten Zähne zu zeigen. Ihre Augen strahlen wie zwei lebensrettende Leuchttürme und so blau wie das Meer, an dessen Küste sie stehen, endlich wird aus dem Lächeln ein Lachen. Es ist aufrichtig, ansteckend, wunderschön und…naja, eben bezaubernd. Wieder 5€ ins Phrasenschwein, die ich gerne zahle, weil es sich zwar anders, aber offensichtlich nicht besser beschreiben lässt.

Jetzt hat Julia ihre Stirn in Falten gelegt. „Was ist?“, fragt sie unsicher lächelnd, was mich aus meinen Gedanken reißt.

„Was ist schlimmer als ein Wurm im Apfel?“, frage ich.

„Hä?“

„Ein halber Wurm im Apfel“

Verlegenes Kichern. Dann, kichernd: „Was hat das jetzt damit zu tun?“

„Ich mag es, wenn du lachst“, sage ich ernsthaft und versuche, aufrichtig und charmant gleichzeitig zu klingen.

„Wenn du noch mehr Gedichte schreibst, habe ich bald immer was zu lachen“, meint sie hämisch grinsend.

Oder ist das neckend? Gar verliebt neckend? Ich kann ihren Blick nicht deuten.

Ein Glühwürmchen surrt an uns vorbei.

„Schau mal, wenigstens eins hast du noch nicht vertrieben!“, ruft sie dem sommerlichen Sonnenuntergang entgegen.

Ich freue mich über das Dämmerlicht, denn so sieht sie nicht, wie rot ich werde. „Wenigstens was“, murmele ich und klinge dabei grimmiger als geplant.

„Hey.“ Julia legt mir eine Hand auf den Rücken.

Ein angenehmes Gefühl von Wärme und Geborgenheit breitet sich von ihrer Handfläche ausgehend in meinem Körper aus, ich drehe meinen Kopf zu ihr. Ihre Pupillen sehen riesig aus, ist das Verliebtheit oder versucht sie nur, etwas im Dämmerlicht zu erkennen? „Ich… find’s… schön hier.“, bringe ich zaghaft, zögerlich, fast schon stotternd heraus, um schließlich ein „Mit dir“, anzufügen. Neunzehnjährige tun sich schwer, über Gefühle zu sprechen.

Oder auch nicht, denn: „Ich auch!“, sagt Julia wie aus der Pistole geschossen. Sie sieht genial aus in dem blauen Pullover, der eigentlich mir gehört.

Ich erwidere nichts, rücke ein bisschen näher an sie heran. Versuche zaghaft, meinen linken Arm um ihre Schulter zu legen, aber sie sitzt immer noch ein wenig zu weit von mir weg. Mein Arm schwebt unsicher in der Luft, ich fühle mich unbeholfen und körperlich eingeschränkt. Nervös balle ich meine rechte Faust zusammen und öffne sie wieder. Ich habe keine Ahnung, was ich sagen oder tun soll.

Julia rutscht mir noch ein Stückchen auf der Picknickdecke entgegen, bis mein Arm ihre Schulter findet. „So?“, fragt sie lächelnd.

Ich nicke nur stumm. Mein Arm ruht auf ihrer Schulter. Ich blicke ihr tief in die Augen.

Sie blickt mindestens genau so tief zurück, strahlt und blitzt, das bezaubernde Lächeln strahlt jetzt noch heller, ihre Wangen sind leicht gerötet. Oder ist das das letzte Licht des Sonnenuntergangs?

Ich neige den Kopf zu ihr. Ihre vollen Lippen sind nur noch wenige Zentimeter von meinen entfernt. Ich schließe die Augen.

 

Zehn Jahre später lege ich den Stift weg, verpasse der Tastatur einen Faustschlag, schließe das Word-Dokument (ohne zu speichern), zerknülle meine Notizen mitsamt dem vergilbten Fresszettel, auf dem das furchtbare Gedicht steht. Wieder einmal ist es mir nicht gelungen, unser erstes Date so festzuhalten, wie ich es gern wollte.

Ich werfe einen flüchtigen Blick auf meine Armbanduhr und erschrecke mich kurz, weil ich zu spät dran bin. Also eile ich ins Bad und verteile ein wenig Haargel auf meinem Kopf, um die Geheimratsecken und die ersten, wenigen grauen Stellen zu vertuschen, streife eine leichte Regenjacke über – denn dieses Jahr will der Juli irgendwie nicht warm werden – trete vor die Tür und schwinge mich aufs Rad. Ich will nicht zu spät zu unserem Jahrestag kommen.

 

„Kommt sie nicht?“, fragt die junge, hübsche Kellnerin mit einem unsicheren Lächeln auf dem Gesicht.

„Woher…“

Die Kellnerin – laut ihrem Namensschild Nina – wirft einen vielsagenden Blick auf den Blumenstrauß, der neben meinem Stuhl auf dem Boden steht und das Schmucketui, an dem ich nervös herumspiele. „Sie müssen trotzdem etwas bestellen, sonst können Sie hier nicht sitzenbleiben“

Ich lasse meinen Blick durch das halbleere Café de Sophie schweifen und will einen blöden Kommentar machen, den ich mir dann aber doch verkneife. „Dann nehme ich das Mousse au Chocolat.“

„Eins?“, fragt Nina und zieht dabei ihre Augenbrauen hoch.

„Eins“, seufze ich.

Sie verschwindet in der Küche, um fünf Minuten später mit dem einen Mousse au Chocolat zurückzukommen. „Immer noch nicht da?“, fragt sie mitleidig.

Ich schüttele nur stumm den Kopf, esse, bestelle noch einen Kaffee, warte, warte noch ein bisschen länger, um mir schließlich die Rechnung bringen zu lassen und zu zahlen. Julia hat mich schon wieder versetzt, aber immerhin weiß ich, wo ich nach ihr suchen muss.

Auf dem Weg zu ihr schweifen meine Gedanken ab und führen mich wieder zu der Erinnerung an unser Date vor zehn Jahren. Es kommt mir vor wie gestern, als wir vor meinem Wohnheim standen und ich…

 

…ich frage: „Kommst du noch mit hoch?“

Julia gibt mir einen sanften Kuss, schüttelt aber den Kopf. „Morgen wieder.“

Ich könnte einfach einsehen, dass es noch nicht so weit ist, dass sie mit mir nach oben kommt, aber ich nehme ihre Hand – vielleicht etwas zu fest – und sehe ihr tief in die Augen. „Ich mach dir einen Kaffee und im Kühlschrank steht noch Mousse au Chocolat.“

Sie lächelt wieder ihr bezauberndes Lächeln, streichelt meine Hand, lässt mich dann aber los. „Morgen“, flüstert sie, versucht entschlossen zu klingen, aber ich höre den Zweifel in ihrer Stimme.

Oder will ich den nur hören? „Nur einen Kaffee“, versuche ich sie zu überzeugen. „Fünf Minuten?“

Sie beißt sich auf die Lippe. „Ich hab‘ morgen eine Prüfung.“

„Ich weiß. Ich doch auch! Aber…“

Sie stellt sich auf die Zehenspitzen und legt mir einen Finger auf die Lippen. „Morgen.“

„Jetzt.“

„Morgen, 14 Uhr, nach der Prüfung. Café de Sophie“, jetzt mit nachdrücklicherem Ton. Sie löst sich von mir und tritt einen Schritt zurück. „Und sei pünktlich!“, neckt sie, macht noch einen Schritt von mir weg.

„Ich bin so pünktlich, ich bin jetzt schon da!“, rufe ich etwas zu laut.

Julia läuft lachend auf die Straße und winkt ab. „Bis morgen!“, ruft sie mir durch die Nacht entgegen.
Ein Glühwürmchen fliegt hinter ihr her, ich lasse mich kurz von seinem Tanz hypnotisieren und sehe deshalb nur aus dem Augenwinkel, wie der Transporter angerauscht kommt. Zu spät, um irgendeine Warnung zu rufen. Ihr Schrei…

 

Ihr Schrei ist schon vor zehn Jahren in der Nacht verhallt, was ich jetzt höre, ist das Krächzen einer Krähe, die auf der Friedhofsmauer sitzt. Sie krächzt laut genug, um mich aus meinen düsteren Gedanken aufzuschrecken. Ich steige vom Fahrrad, um mir die Tränen aus dem Augenwinkel zu wischen – Männer sind auch mit fast 30 nicht zu alt zum Weinen – und verfluche dabei mich selbst, den betrunkenen Fahrer, sogar Gott und die Welt. Noch einmal wandern meine Gedanken zu diesem Sommertag vor zehn Jahren: In meiner Erinnerung hat sich nicht etwa das Quietschen der Bremsen eingebrannt, nicht, wie ich auf die Straße kotze, auch nicht die Stimme des Notarztes, der versucht, mich zu beruhigen. Was mich nachts schweißgebadet aufwachen lässt, ist der Traum von diesem einzelnen Glühwürmchen, was in dieser Nacht immer wieder um mich herumsurrte, bis ich es mit der flachen Hand erledigt habe. Wie eine lästige Stechmücke.

 

V2 / feh102021