Von Martina Zimmermann

„Frau Kaltmann, jetzt kommen Sie doch bitte mit.“ Ich höre die Stimme nur von Weitem.

Was will diese Frau von mir? Wer ist die überhaupt? Und warum kennt sie meinen Namen?

Diese Gedanken ziehen durch meinen Kopf. Langsam, wie ein Schleier.

„Warum ist alles um mich herum so anders geworden?“, frage ich mich. „Ich bin doch eine Frau in den Besten Jahren. Aber warum verstehe ich so vieles nicht?“

Ich spüre, wie eine Art Verzweiflung in mir hochsteigt. Sie gleicht einer Ohnmacht, die mich überkommt und mich schwindelig macht. Ich drohe zu stürzen und kann nicht mehr denken. Bekomme keine Luft mehr, als wenn ein riesiger Stein auf meiner Brust liegt, der mir den Atem nimmt. Aber da ist kein Stein, stelle ich fest. Was ist es dann?

 

„Frau Kaltmann, jetzt kommen Sie doch mit.“ Eine Frau läuft mit schnellen Schritten auf mich zu. Bevor ich noch etwas erwidern kann, nimmt sie meinen Arm. Sie stützt mich und lächelt mich freundlich an. „Ich helfe Ihnen, so geht es besser.“ Sie führt mich den Gang entlang. Ein langer Gang mit grauen Wänden, irgendwie trostlos. Warum fällt es mir so schwer zu gehen? Ich versuche ein Lächeln, allerdings glaube ich, es gelingt mir nur mittelmäßig. Freundlich und dankbar nehme ich die Hilfe gerne an, zumal ich feststelle, ich brauche sie. Seit wann ist das so? Die Gedanken kommen wieder …

 

War ich nicht gestern noch fünfunddreißig? Was war seitdem passiert?

Wie in einem Tunnel umrandet von einem großen Nichts, so fühle ich mich gerade, als diese für mich fremde Frau mich den langen Gang hinunter führt. „Wohin bringt sie mich?“, frage ich mich. Allerdings sage ich nichts. Ich versuche dankbar zu lächeln und konzentriere mich auf meine Schritte. Das verlangt mir gerade genug ab. Am Ende des Ganges laufen wir in einen großer Raum. Ich habe einige Mühe den Überblick zu bekommen. Ganz langsam sehe ich einige Tische, daran sitzen Senioren. Sie blicken mich an. Einige lächeln, als würden sie mich kennen. Andere schauen teilnahmslos. Ihre Augen sind leer, der Blick wie versteinert. Sie scheinen weit weg zu sein. Sehr weit … vielleicht in einer anderen Welt? Vielleicht in ihrer Jugend, genau wie ich? Warum sind denn hier alles alte Menschen? „Ich bin doch noch nicht so alt!“, rufe ich aus einem Impuls heraus.

Die freundliche Frau, die mich immer noch stützt, lacht und sagt: „Natürlich nicht. Heutzutage ist man mit Mitte achtzig auch noch nicht alt.“ Ihre Worte hallen in meinen Ohren. „Hat sie Mitte achtzig gesagt?“, frage ich mich. „Wie kommen Sie denn darauf?“, frage ich. Sie lacht. „Ach Frau Kaltmann, sie sind mir eine. Immer für einen Spaß zu haben.“

Was für eine bin ich denn? Gedanken schießen erneut durch meinen Kopf. Überhaupt tut sie so, als würde sie mich kennen. Aber woher denn? Warum bin ich überhaupt hier und wie bin ich hierher gekommen? Es passt nichts mehr zusammen. Mein Kopf scheint voll mit Kartoffelbrei zu sein. So sehr ich mich auch anstrenge, ich kann mich nicht erinnern …

 

Genau das war stets meine Stärke. Wenn einer aus meiner Familie an alles gedacht hat, dann war ich es gewesen. Ich musste alle erinnern. Meine Kinder und meinen Mann. Sie vergaßen alles. „Gut, dass der Kopf fest sitzt“, hatte ich immer zu ihnen gesagt, „sonst hätten sie ihn auch noch vergessen!“

 

Bei dem Gedanken muss ich lachen, was waren das für Zeiten. Sie waren anstrengend für mich, die Kinder, der Haushalt, der große Garten. Meinen Mann zu unterstützen, er brauchte mich. Durch seine Selbständigkeit als Schreiner hatte er immer zu tun. Ich schrieb die Rechnungen und machte die Buchhaltung. Eigentlich sprang ich in jedes Loch, welches sich vor mir auftat um dieses zu stopfen. Ich tat es mit einer Selbstverständlichkeit die ihresgleichen suchte. Hermann erwartete es von mir, genau wie die Kinder. Ich funktionierte all die Jahre und ich war glücklich damit.

Es war eine schöne Zeit. Hermann, war der  beste Mann, den ich mir hätte vorstellen können. Er liebte mich und ich ihn. Wir hielten stets zusammen und verfolgten unsere Ziele gemeinsam. Auch einen gewissen Lebensstandard  konnten wir uns erarbeiten und auch genießen.

Welch schöne Gedanken …

 

Was hat diese Frau vorhin zu mir gesagt? Ich bin schon so alt? Kann es denn sein? Warum ist Hermann nicht bei mir und wo sind die Kinder? Wieder dieser Kartoffelbrei in meinem Kopf.

 

„Setzen Sie sich an den Tisch, Frau Kaltmann. Da ist doch auch Ihr Platz.“

„Mein Platz?“, frage ich und sehe diese Frau an. Ich verstehe nichts mehr. Warum ist dort mein Platz? Ich bin noch nie in diesem Raum gewesen, darauf kann ich wetten. Ich kenne überhaupt niemanden hier. Was soll ich eigentlich hier?

„Mein Platz“, wiederhole ich leise und schaue dabei meine Tischnachbarin fragend an. Sie lächelt mich an, als würde sie mich kennen. Woher? Ich habe keine Ahnung, aber ich benehme mich natürlich und bin freundlich.

Das war ich immer. Dann werde ich jetzt und hier auch nicht damit aufhören. Schließlich will ich nicht unangenehm auffallen. Das wollte ich nie. Immer schön in der Mitte mitbewegen, nicht zu große Klappe haben, aber auch kein Duckmäuser sein. Das war mein Motto. Und jetzt? Ich sitze auf meinem Platz. Angeblich … ich habe diesen Platz noch nie gesehen, aber ich sage nichts.

 

„Hast du gut geschlafen Agathe?“, fragt sie mich. Ich schaue sie an und sage spontan. „Ja, sehr gut. Du auch?“ Sie nickt. Ich weiß nicht warum ich das sage, kann mich nicht einmal erinnern geschlafen zu haben. Wo denn auch? Sollte ich hier wohnen? Das wäre ja verrückt. Ich habe ein Zuhause. Mit Hermann und den Kindern …

Oder? Ich weiß nichts mehr. Aber eine Erinnerung habe ich in meinem Kopf. Sie ist so stark, ich werde es nie vergessen …

 

Ich war neunzehn, da sah ich ihn zum ersten Mal beim Tanzen. Einmal im Monat gab es eine Tanzveranstaltung. Es war nichts besonderes. Eine Art Turnhalle wurde dazu umgestaltet, mit etwas Dekoration, eine Kapelle die spielte, und wir waren selig. Aus dem Alltag zu entkommen, die Musik zu genießen und natürlich hoffte jedes Mädchen auf den passenden Tänzer.

Dort hatte ich Hermann kennen gelernt. Er war so charmant und sah blendend aus. Er trug einen dunkelblauen Anzug und seine Haare waren glatt zurück gekämmt. Er wirkte so stark, mir war als wenn nicht einmal ein Haar gewagt hätte, aus dieser Frisur auszubrechen. Das gefiel mir. Ein Mann, der wusste, was er wollte. Zudem eine Ausstrahlung, die seinesgleichen suchte. Jedes Mädchen himmelte ihn an, aber er kam schnurstracks auf mich zu und forderte mich auf. Ich kann mich noch genau an das Gefühl erinnern. In seinen starken Armen über den Tanzboden zu schweben. Wie im Himmel habe ich mich gefühlt. Ach wie schön war es gewesen …

 

„Frau Kaltmann, darf ich Ihnen Kuchen anbieten?“ Da war sie wieder, diese Frau. Sie steht vor mir, lächelte immer noch. In mir tut sich eine Erkenntnis auf. Ich spüre es, wie ein dumpfes Geräusch, welches nach und nach lauter wird, genauso fühle ich meine Gegenwart hier. Immer mehr spüre ich, dass ich angekommen bin. Wie durch einen Nebel gezogen in das Hier und Jetzt, so, als wenn ich doch nicht zum ersten Male hier sitzen würde. Eigenartig…

„Sie mögen doch so gerne Kuchen, oder?“, fragt mich die nette Frau und befüllt meinen Teller.

„Ja, gerne“, antworte ich. Ich liebe Kuchen und in diesem Moment ist wieder alles klar.

 

Kein Kartoffelbrei in meinem Kopf. Ich kann mich erinnern.

Zumindest weiß ich, in der letzten Zeit bin ich oft hier gewesen. Hermann ist gestorben. Der Gedanke kommt mir beim Essen. Es ist wieder alles da. Die Kinder, die mich nach hierhin gebracht haben … Sie können nicht für mich sorgen… Ihre Arbeit verlangt alles von ihnen ab.

 

Während ich den Löffel mit dem Kuchen mit einer Selbstverständlichkeit wie von einem Roboter gesteuert zu meinen Mund führe, ist alles wieder da. Eine Traurigkeit steigt in mir hoch. Aber ich unterdrücke sie. Plötzlich weiß ich, mir gegenüber sitzt die Else. Wir sind befreundet und ich mag sie gerne. Wir unterstützen uns hier gegenseitig.

„Heute Nachmittag ist Bingo dran“, sagt Else und zwinkert mir zu. „Du liebst doch Bingo“, lacht sie. „Genau, ich freue mich“, erwidere ich. Wir beide lachen während wir unseren Kuchen weiter essen und schauen uns dabei in die Augen. Else macht gerne Quatsch und wir beide haben viel zu lachen.

„Dann kann es gleich losgehen“, sage ich und alles ist gut.

 

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