Von Lena Rupp

„Ich kann deine Angst schmecken“, sagt sie, küsst mich mit ihren kirscheisverschmierten Lippen auf den Mund und springt. Für den Moment eines Herzschlags rieche ich den süßlich- fauligen Geschmack der Kirschen und höre nichts als Rauschen- bis sie mit einem dumpfen Aufprall laut schreiend unten im Wasser ankommt. 

Okay, versuche ich mich zu beruhigen, wenn ich springe, ist es fast geschafft. Ich habe ihr schon von meinen verkorksten Eltern erzählt, erste Hürde geschafft. Wenn ich jetzt die 2. Mutprobe bestehe, bin ich fast am Ziel. Von unten johlt sie meinen Namen, und auch ich springe. Danach kann ich eine halbe Stunde nicht sitzen bleiben, und sie lacht und lacht und zieht mich immer wieder damit auf. Als die Sonne komplett untergegangen ist, klettern wir über den Schwimmbadzaun und legen uns auf eine gemähte Stelle inmitten des hohen Grases am Ende des Parks. Verstohlen schaue ich immer wieder zu den Pärchen auf den Picknickdecken links und rechts von uns und versuche die besonders locker wirkenden Männer nachzuahmen. Manche haben einen Arm um ihr Mädchen gelegt, manche haben den Blick auf den Himmel gerichtet, manche dösen, Knie angewinkelt und Blick in die Ferne. Wir haben keinen Körperkontakt, aber ich spüre trotzdem die kleinen Stacheln ihrer Beinhaare, die mich kitzeln. „Zwei Tage nicht rasiert“ lächelt sie verschmitzt und küsst mich wieder. Wenn ich die nächste Aufgabe schaffe, bin ich im Endspiel. 

Holden Caulfield und Finch Atticus. Es gibt zu viele von uns und meine Geschichte hier ist schon auserzählt. Ich weiß das. Aber dadurch, dass ich sie lebe, existiert sie real und nicht nur in amerikanischen Lesezirkeln oder Collegekursen. Ist sie also wirklich auserzählt, frage ich mich. 

Pitoval sagt sie, und ich lächle erleichtert. Auf all das konnte ich mich vorbereiten, was danach kommt, darüber gibt es nur Geschichten, die man glauben kann, aber nicht muss. Und nicht viele davon. 

Wir Holden Caulfields tragen alle jugendliche Tragik, Liebenswürdigkeit, Empfindsamkeit in uns.   Ich weiß nicht, was wir bei 30- jährigen Frauen auslösen, oder 50-jährigen.  Ich weiß nicht, ob sich 60-jährige Männer an uns in sich erinnern. Heißt es nicht, man muss vorwärts leben und rückwärts verstehen? Im besten Fall schaffe ich es in so ein Alter und kann dann Empathie für den 19-Jährigen empfinden, der ich gerade bin. So versteht es Dr. Paul, und ich muss ihr zugestehen, dass es gut klingt. Gut für die nächsten Auflagen psychologischer Fach- und Laienliteratur, die alle achtsamkeitsbasierten Strategien durchhaben, und ein neues Steckenpferd brauchen. Dr. Paul sagt, wir behandeln nicht deine Angst, sondern wir überlegen, wie du sie akzeptieren und trotzdem ein sinnerfülltes Leben führen kannst. Wie du den kleinen Jungen in dir lieben lernst. Vielleicht sollte ich Linn fragen, was ein sinnerfülltes Leben ist. Ich traue mich nicht, es scheint zu trivial. Die gleiche Geschichte, schon 1000-mal erzählt. Sie will etwas anderes, sie will sich nicht langweilen. Also gebe ich mein Bestes. Sie fragt, ob ich mich entscheiden würde, gar nicht erst gelebt zu haben, wenn ich wüsste, dass mein Leben schicksalshafte Konsequenzen hätte für jemand anderen. Wir reden über Dark, und ich bin ein zweites Mal erleichtert, weil ich Milan gezwungen habe, die Serie mit mir zu gucken.

Nie fragt sie, wie es für mich nach dem Sommer weitergeht, und von sich erzählt sie auch nichts.  „Hast du Hunger?“ fragt sie, und ich weiß, dass ich in der 90. Minute angekommen bin. Keine Verlängerung, kein Elfmeterschießen. Einfach so, steiler Pass, leeres Tor, 50.000 Fans hinter mir. In diesem Moment sehe ich nur Milan im Fanblock, wie er mir zujubelt und aufgeregt hin- und her hüpft, aber ich bleibe ruhig, nicke, und warte, was sie antworten wird. „Also der Döner neben dem Kino, weißt du, am Südcampus, der hat noch auf. Wir können uns da was holen“ „Ja, das wäre gut“, sage ich und trotte ihr hinterher. Der Park leert sich langsam, vor und neben uns laufen eng umschlungene Pärchen barfuß nach Hause. Lässig streife ich meine Sandalen ab und spüre die Nässe des Grases und die Halme zwischen meinen Zehen. Ist das schon Tau“ frage ich sie. Linn lacht und tut es mir nach. „ich weiß nicht, ich dachte es heißt Morgentau.“ „Naja es ist ja schon nach 12“ sage ich und komme mir gleich naiv vor. Normalerweise gehe ich früh schlafen, nach dem Unterricht und dem Regale einräumen hält mich nichts wach. Wahrscheinlich ist das nicht mehr länger so, realisiere ich. Die nächsten Nächte brauche ich Zeit, um mir genau das hier wieder vorzustellen, wieder und wieder. „Fuck es nicht ab“ hat Milan zu mir gesagt, es ist als lebe er durch mich und mit mir, ein kollektives erstes Mal für uns beide. 

Eigentlich habe ich keinen Hunger, aber wenn ich das zugebe, wäre es wahrscheinlich vorbei, und so bestelle ich eine Pizza und Cola und warte auf sie. „Keine veganen Burger mehr nach 23 Uhr“, sagt Nino. Ich sehe, wie sie enttäuscht die Achseln zuckt, und sich Cola und Pommes bestellt. Wir sitzen auf einer kleinen Mauer vor einem Studentenwohnheim und essen schweigend. So weit war Benno auch, aber danach ging die Geschichte nicht weiter. „Willst du noch mitkommen“ fragt sie, und zum ersten Mal heute Abend oder heute Nacht sind ihre Augen unsicher, zucken hin und her und fokussieren nicht mich. „Ja“ sage ich, und folge ihr. 

Ich habe drei Kondome mitgenommen. Einen als Ausfall, falls einer platzt, sagt Milan, den zweiten für die Partyyy und den dritten, weil man ja nicht weiß, ob es so gut ist, dass es ein zweites Mal passieren könnte. Bei Linn läuft es immer nach einem 5-stufigen Schema ab. Mutprobe im Innen, Mutprobe im Außen, intellektuelles Messen und dann Einladung zum Essen und Sex. 5 Schritte. Ich bin vor dem letzten. Bis zum Essen gibt es Geschichten, danach wird es vage, und das ist das Abenteuer dabei. Wer schafft es wohin, wer kommt am weitesten. Über den Sex redet keiner mehr. Aber alle, die noch nicht dran waren, stellen ihn sich vor, fantasieren, und irgendwie wissen wir alle, das alles gehen kann mit ihr, dass alles erlaubt ist, dass sie keine Grenzen setzt. 

Ich bin voller Ehrfurcht, denn ich sehe zum ersten Mal ein Mädchen, das nicht meine Mutter war oder Schwester ist, nackt vor mir stehen. Wenn ich nicht so aufgeregt wäre, wüsste ich, was ich jetzt sagen könnte. „Ist alles ok?“ fragt Linn und ich lache nervös, weil ich ab hier kein Skript mehr habe. „Bist du Jungfrau?“ fragt sie und ihre Augen weiten sich. „Natürlich“ will ich ihr zuschleudern, „ich habe nicht schon die halbe Klasse und die Parallelklasse hier auf der Luftmatratze gefickt“, will ich schreien und schäme mich für meine Wut. Ich sehe wie in meinem Kopf die Efeuranken wachsen, wie sie alles umschlingen, bis ich keinen klaren Gedanken mehr fassen kann, mein Herz rast und ich denke wieder, ich ersticke. Dr. Paul sagt atmen, und das Ruhebild hochholen, und ich versuche es und versuche es, aber das Efeu wächst. „Kim, bist du ok?“ Sie klingt panisch und ich setze mich auf den Boden. Ich schäme mich, und in meiner Not küsse ich sie jetzt hektisch, grabsche nach ihren Brüsten und ziehe an ihren Haaren. Sie macht mit, ich bin erst erstaunt, dann freue ich mich, und dann kann ich nichts mehr denken, es ist als wachse das Efeu zwischen uns, auf ihr, in ihr, in mir, ich presse mich auf sie und sie stöhnt. Dann ist es vorbei. 

„Ich habe das Gummi vergessen“ denke ich und eine Bombe platzt in meinem Kopf. „Kannst du mich ein bisschen halten?“ fragt sie, und es klingt entschuldigend. Das Efeu hat mich umwachsen. „Für mich war es auch das erste Mal“ sagt sie leise, und eine zweite Bombe platzt in meinem Kopf. Endlich realisiere ich, was das bedeutet, und zum ersten Mal heute Nacht warte ich nicht ab, sondern handle. Ich küsse sie. Ich will sie fragen, was mit den anderen Jungs war, mit all den Geschichten, ihrem Ruf. Aber jetzt schäme ich mich nur noch und will es wieder gut machen. Ich küsse sie, und langsam sehe ich, wie mich das Efeu frei gibt. „Willst du es nochmal versuchen? Ich habe noch drei Gummis dabei“. Sie lacht. „Ich nehme die Pille“ sagt sie. „Und warum drei?“ fragt sie und ich erkläre ihr Milans Theorie.