Von Stefan Schumacher

Aus der Halle ist rhythmisches Klatschen zu hören und schließlich laute Rufe nach einer Zugabe. Selbst durch die geschlossene Stahltür, in der kleinen muffigen Kammer hinter der Bühne der Aula, ist der Lärm überaus präsent. 

Die vier Mädchen liegen erschöpft in den Sesseln, die den Raum fast völlig ausfüllen. Sie grinsen und strahlen um die Wette. Dies war ihr bislang spektakulärster Auftritt. Irgendwann erhebt sich Emily flink von ihrem Sessel.

„Weiter geht’s, Mädels, Zeit für die Zugabe!“

 

Zögernd räkeln sich die anderen und erheben sich ebenfalls, während Emily bereits vor dem großen Spiegel ihr Make-Up in Ordnung bringt. Dann bindet sie ihr langes, blondes Haar zu einem Pferdeschwanz und treibt mit hektischen Armbewegungen die anderen an.

Hier, hinter der Bühne, aber mehr noch, wenn sie wie ein wildgewordener Teenager über die Bühne stürmt, könnte man fast vergessen, dass sie die Älteste von ihnen ist. Als Einzige ist sie schon neunzehn und kurz vor dem Abi.

Bevor sie durch die Stahltür zurück in die brodelnde Höhle zurückkehren, machen sie einen Kreis, legen einander die Arme um die Schultern. Emily flüstert fast, als sie die anderen anspornt: „Mädels, ihr ward großartig. Und jetzt gehen wir da raus und zeigen der Welt, wer den Rock and Roll erfunden hat!“

Mit einem kräftigen Ruck öffnet Charlotte die Stahltür. Sogleich drängt sich ihnen eine rauchige Wärme entgegen. Strahlend und winkend betreten sie erneut die Bühne und nehmen ihre Plätze ein. Alicia greift ihre elektrische Gitarre und schrammt einmal kräftig über alle Saiten. Charlotte wirft sich den Gurt ihres Basses um die Schulter und zupft lässig die Saiten an. Anne verschwindet fast völlig hinter ihren Drums und wirbelt kurz mit den Sticks über alle Felle.

Als letzte schwebt Emily auf die Bühne, lächelt und winkt freundlich in die Menge. An ihrem Mikro angekommen, haucht sie ein paar höfliche Dankesworte hinein. Dann hebt sie den Ständer ein Stück in die Höhe, hebt die Hand und gibt das Zeichen an die anderen.

Im selben Augenblick explodiert die Stille und der Saal wird vollumfänglich überschwemmt von einer Wand aus Lärm, der sich schnell verflüchtig und einem stampfenden und zugleich harmonischen Sound Platz macht, der sich mehr und mehr in schwindelerregende Höhen schraubt.

Mitten hinein erklingt Emilys tiefe, ein wenig mystisch anmutende Stimme, die zunächst Mühe zu haben scheint, gegen die vielstimmige Soundwand anzukommen, jedoch nach und nach die Oberhand gewinnt und die anderen Instrumente an die Seite drängt, bis ihr Gesang den Saal vollständig dominiert.

So stürmen sie gemeinsam durch den Song und als Emily zum letzten Mal den Refrain „The unknown lady beside me” aus sich heraus schreit, schaut sie, aufreizend lasziv herüber zu Alicia, die noch einmal kräftig in die Saiten schrammt. Nachdem das letzte Echo der Klangcollage verstummt ist, verfällt die Menge in einen kollektiven Rausch und die Mädchen verlassen winkend die Bühne.

 

Kurz darauf erklingt Tanzmusik aus den Lautsprechern und den Rest der Nacht tanzen die Jugendlichen ausgelassen durch den Saal und feiern das Leben.

Die Freundinnen lieben ihre Schülerpartys und können niemals genug davon bekommen. Zwischendurch trinken sie bunte Cocktails, die sie jede auf ihre ganz eigene Reise zu den Sternen schicken.

Für einen Moment verliert Emily die Orientierung. Sie schwankt und taumelt und sucht irgendwo Halt. Den findet sie in Alicias Hand, die plötzlich aus dem Nichts erschienen ist, um Emily aufzufangen.

„Vorsicht Süße, halt dich gut fest. Der Boden schwankt hier ganz ordentlich!“, ruft Alicia und hält Emily nun ganz fest in ihren Armen.

Dann reicht sie ihr eine kleine Flasche mit Wasser und tupft zärtlich die Schweißperlen von ihrer Stirn.

 

Als Emily erwacht, kitzelt ein Sonnenstrahl an ihre Nase. Sie blinzelt und hebt vorsichtig ihren Kopf. An die Nacht hat sie nur verschwommene Erinnerungen.

Plötzlich öffnet sich die Tür und Alicia schwebt herein, mit einem strahlenden Lächeln im Gesicht und einem riesigen Tablett in den Händen.

„Guten Morgen, meine Schöne – Frühstück ist fertig“, schallt es sogleich durch den Raum.

Emily steht der Mund offen.

„Was machst du hier?“, stammelt sie.

„Mit dir frühstücken“, lacht Alicia.

Emily schießen planlos wirre Gedanken durch ihren Kopf. Könnte sie sich doch nur an irgendetwas erinnern.

„Was ist passiert?“, stößt sie hervor und klingt dabei ein wenig zu aufgeregt, wie Alicia findet.

Diese lässt sich nicht beirren und berichtet kurz davon, wie Anne und sie Emily nach Hause begleitet und dann ausgezogen und in ihr Bett gelegt haben, weil sie selber nicht mehr dazu in der Lage gewesen war.

Emily ist heilfroh, dass ihre Eltern übers Wochenende verreist sind.

„Und was ist dann passiert?“, fragt sie vorsichtig.

Alicia stellt das Tablett am Fußende des Bettes ab, lächelt verschmitzt und zögert mit ihrer Antwort.

„Dann hatten wir beide miteinander den besten Sex unseres Lebens“, ruft sie fröhlich und legt sofort eine Hand auf ihren Mund, als hätte sie etwas Unanständiges gesagt.

Von einem Augenblick zum anderen entweicht alles Blut aus Emilys Gesicht und der Boden beginnt wieder zu schwanken. Alicias Gesichtsausdruck wird ernst, offenbar hat sie ein schlechtes Gewissen, denn sie ergänzt sogleich.

„Entspann dich bitte, das war nur Spaß. Es ist nichts dergleichen passiert!“

Zärtlich streichelt sie über Emilys Arm und ergänzt.

„Was im übrigen ausgesprochen bedauerlich ist, denn du sahst zu süß aus, nachdem wir dir dein schneeweißes Leinennachthemd angezogen hatten, aber da warst du dann auch schon tief und fest eingeschlafen.“

Emily hebt die Bettdecke ein Stück hoch, schaut darunter und sieht Alicias Ausführungen bestätigt.

Dann lächelt sie freundlich und ergänzt. „Danke Alicia, lieb von dir, dass du dich um mich gekümmert hast.“

Während sie in das frische Croissant beißt, hebt sie erneut ihre Bettdecke ein Stück und nickt Alicia auffordernd zu, die sich zögernd zu ihr setzt.

 

Nach dem üppigen Frühstück liegen sie nebeneinander und zufrieden in Emilys großem Bett.

„Musstest du mich so erschrecken? Mir ist fast das Herz stehen geblieben“, sagt Emily, während Alicia zärtlich mit ihrem Haar spielt.

„Wäre es wirklich so schlimm, wenn etwas passiert wäre?“, fragt Alicia und ergänzt: „Emily, du bist meine beste Freundin und du weißt, wie sehr ich dich liebe. Und ich bin mir sicher, dass mich auch ein bisschen liebst. Zumindest findest du mich sexy, so wie du mich immer anschaust.“

Emily richtet sich auf und schaut ihrer Freundin nun direkt in ihre blauen Augen. Emily liebt diese Augen, diesen Mund und das Gesicht, zu dem sie gehören und überhaupt alles an ihrer Freundin. Sie zögert, senkt ihren Blick und beginnt leise zu sprechen.

„Alicia, ich weiß nicht, ob ich das kann. Bislang war ich mir sicher, dass ich nur auf Jungs stehe.“

Das ist natürlich gelogen und das weiß Alicia sicher auch, denn sie lacht laut auf. „Du bist witzig. In einer Welt, in der es nur dumme blasierte Jungs gibt, ist das nicht wirklich die schlauste Idee.“

Damit hat sie natürlich vollkommen recht, aber das möchte Emily jetzt nicht zugeben. Überhaupt findet sie, dass dieses Gespräch deutlich in die falsche Richtung läuft. Daher springt sie aus dem Bett und verschwindet im Bad.

Als sie es frisch geduscht und angezogen wieder verlassen hat, findet sie Alicia unten in der Küche, die gerade das Frühstückstablett abräumt. Sie wirkt irgendwie bedrückt und Emily will sie nicht so gehen lassen.

Daher fragt sie: „Magst du nicht noch bleiben? Ich habe ein paar neue Texte geschrieben, die ich gerne mit dir besprechen möchte. Und meine Eltern kommen erst heute Abend wieder.“

Alicia zögert einen Moment, als müsse sie darüber nachdenken, dann weicht sie aus. 

„Lass uns das ein anderes Mal machen. Ich bin seit gestern in diesen Klamotten und würde mich gerne duschen und umziehen.“

Aber das lässt Emily ihr nicht durchgehen.

„Duschen kannst du auch hier bei mir und ich leihe dir gerne eines meiner Kleider.“

Alicia nickt und verschwindet lächelnd in der Dusche. Später durchstöbern sie Emilys Kleiderschrank, der voll mit Vintage-Kleidern ist, und in dem sich schnell etwas Passendes findet, das ihnen beiden gleichermaßen gefällt.

Danach machen sie es sich im Wohnzimmer gemütlich, und Emily liest einen neuen Text vor. Sogleich setzt sich Alicia an das Klavier in der Ecke und probiert einige Melodien, die sie offenbar schon seit einer Weile mit sich herumträgt.

Als sie etwas gefunden hat, beginnt Emily damit, zu den Melodieschnipseln unterschiedliche Textzeilen zu singen, bis sie die passenden gefunden hat. Später probiert Alicia noch, ob es auch mit der Gitarre klingt und nickt irgendwann zufrieden.

So komponieren sie an diesem Nachmittag einen neuen, längeren und ein wenig elegischen Song, haben viel Freude dabei, und Emily fühlt sich ihrer Freundin sehr nah. 

Irgendwann greift Alicia das Thema dann doch noch einmal auf. „Wie lange willst du noch auf deinen Traumprinzen warten, immerhin bis du schon neunzehn?“

Emily verzieht ihr Gesicht, zuckt mit den Schultern und hat offenbar nicht vor, darauf eine Antwort zu geben.

Alicia schüttelt ihren Kopf.

„Ich muss nun wirklich los, immerhin müssen wir beide morgen wieder in die Schule.“

Alicia steht vom Sofa auf und verharrt für einen Moment. In Emilys elegantem, cremefarbenem, bodenlangem Empirekleid wirkt Alicia wie geradewegs einem Roman von Jane Austen entsprungen; elfenhaft elegant und überaus verführerisch.

Emily kramt ein Lächeln hervor, denn gerade eben ist ihr etwas klar geworden und im selben Moment hat sie eine Entscheidung getroffen.

„Magst du nicht heute Nacht noch einmal bei mir bleiben? Ich verspreche auch, nicht wieder sofort einzuschlafen.“

Dann nimmt sie Alicias Hand und zieht sie mit sich in ihr Zimmer.

 

V3