Von Ingo Pietsch

Vor vielen Jahren ereignete sich folgende Geschichte, die ich, so gut es geht aus meinem Gedächtnis aufschreibe:

Ich war erst seit kurzem Krankenschwesterschülerin und jetzt auf der Inneren – Station 2.

Hier behandelten wir alles, was mit Schlaganfällen, Herzproblemen und anderen inneren Organen zu tun hatte, wie der Name Innere schon sagte.

Bei uns gab es zehn Zimmer mit je drei Betten. Morgens wurden die Patienten, die es nicht selber konnten, gewaschen, medikamentös behandelt, in meinem Fall unter Aufsicht, und ihre Vitalwerte kontrolliert.

Wir waren in der Schicht zwei Schwestern, zwei Schwesternschülerinnen und unser Zivi Ingo.

Ingo hatte eigentlich den Hol- und Bringe-Dienst verrichten wollen. Essenswagen auf die Stationen fahren, Wasserkisten, Material verteilen und andere Botengänge.

Heute erledigt das eine ganze Flotte von Roboterwagen.

Aus organisatorischen Gründen hatte es aber nicht geklappt und so war er bei uns gelandet.

Er war jetzt schon ein halbes Jahr bei uns, zwar nicht unbedingt von der Pflege begeistert, aber stets gut gelaunt und verrichtete eine ordentliche Arbeit, auf die wir uns verlassen konnten.

Unsere L-förmige Station war gut überschaubar und im Notfall waren wir ruckzuck vor Ort.

Ich beobachtete zusammen mit Schwester Astrid, wie Ingo von einem Zimmer zum nächsten eilte und die Mülleimer leerte. Er hatte dabei einen so zügigen Schritt drauf, dass man meinen konnte, er würde gleiten.

„Manchmal ist er mir unheimlich“, meinte Astrid. „Er ist zu Fuß schneller als unsere Rohrpost.“

Ich nickte nur. Astrid ging weiter und ich sah, wie Ingo mit dem vollen Müllbeutel den Gang entlangeilte. Dann war er um die Ecke verschwunden.

An einer Zimmertür ging die rote Lampe an. Jemand brauchte Hilfe oder hatte eine Frage, was merkwürdig war, denn in dem Zimmer lag eine Komapatientin.

Ich öffnete die Tür und wollte den Alarm quittieren, da ging er schon von alleine aus. Bei der alten Technik gab es schon mal einen Fehlalarm – aber dies war ein merkwürdiger Zufall.

Die alte Dame in dem Zimmer war über neunzig. Sie hatte noch Zuhause gelebt und war nach einem schweren Sturz ins Krankenhaus gebracht worden. Sie trug eine dicke Beule am Kopf. Laut den Ärzten hatte sie einen Schlaganfall erlitten und würde wahrscheinlich nicht wieder aufwachen.

Ich erinnerte mich, dass ein Apoplex, wie man den Schlaganfall auch nannte, Durchblutungsstörungen in den Gehirnhälften zur Folge hatte. War die linke betroffen, konnte man rechtsseitig gelähmt sein und umgekehrt.

Ich hatte keine Ahnung, wie ich in dem Moment darauf kam und schüttelte den Kopf.

Die Frau lag ganz friedlich da und blickte zum Fenster. Jedenfalls sah es von meiner Position so aus. Sonnenstrahlen hüllten sie ein und ich wollte die Gardinen vorziehen.

Ich drehte mich wieder um und bemerkte ein Lächeln auf ihrem Gesicht.

Fast schon automatisch erkannte ich, dass sich die Bettdecke vom Atmen nicht mehr hob und senkte. 

Ich fühlte ihren Puls, aber da war keiner mehr.

Ich zuckte kurz zusammen und holte Astrid, die mir das Gleiche bestätige. 

Dann folgte das übliche Prozedere, wenn jemand verstorben war.

Es war nicht mein erster Patient und leider muss ich eingestehen, dass man nach und nach doch etwas abhärtet.

Während wir die alte Dame fertig machten, für ihre vorletzte Reise, blickte Ingo kurz ins Zimmer und fragte, ob er helfen könne.

Ich musterte ihn, als könne ich seine Gedanken lesen.

Er wich meinem Blick nicht aus, verschwand aber gleich wieder wortlos.

Irgendetwas hatte er zu verbergen und ich beschloss, ihn im Auge zu behalten.

 

Ein paar Tage später, es war ein Sonntag und wir hatten gerade das Mittagessen verteilt, ereignete sich etwas Ähnliches.

Ingo hatte den Auftrag bekommen, bei allen Patienten die Vitalwerte zu prüfen. 

Was wir mindestens drei Mal täglich taten.

Er war gerade mit seinem Rundgang fertig geworden, als wieder ein Alarm anging.

In dem entsprechenden Zimmer lagen zwei Herren um die siebzig.

Einer hatte einen Herzschrittmacher bekommen, der andere war wegen Herzrhythmusstörungen hier. Wie sich herausstellte, hatte sein lebenslanges Rauchverhalten seinen ganzen Körper zerstört. Wie er überhaupt so alt werden konnte, war den Ärzten ein Rätsel geblieben.

Ich ging in den Raum und der Alarm schaltete sich von alleine ab.

Der Schrittmacherpatient schlief tief und fest, das hörte ich am Schnarchen, aber der Raucher hatte seine Augen weit geöffnet und sah sich das Wort zum Sonntag im Fernsehen an, das von unserem Pastor aus der hauseigenen Kapelle übertragen wurde.

„Alles klar, Herr …?“, weiter kam ich nicht. Ein Lächeln umspielte seine Lippen, aber sein Blick war starr.

Ich überlegte, ob ich Astrid davon erzählen sollte, entschied mich aber, erst Ingo zur Rede zu stellen.

 

Den ganzen Nachmittag ging er mir aus dem Weg.

Irgendwann abends holte er Verbandsmaterial aus unserem Vorratsraum und ich folgte ihm.

Ich schloss die Tür hinter mir.

Es gab keinen weiteren Ausgang und auch keine Fenster, nur Regale mit Binden, Kanülen und anderen medizinischen Gerätschaften.

„Was willst du von mir?“, fragte er barsch.

So aufgewühlt hatte ich ihn noch nie erlebt. Sonst war er immer so still und nett.

„Was hast du mit den beiden gemacht?“, fragte ich ihn direkt.

„Gar nichts. Ihre Zeit war einfach um.“

Ich ging näher auf ihn zu. Die Regale warfen gruselige Schatten auf sein Gesicht.

Seine braunen Augen wirkten durch das diffuse Licht fast schwarz.

„Woher willst du das wissen?“

„Ich spüre so etwas, aber ich habe nichts gemacht, ehrlich.“

Ich war jetzt ganz dicht bei ihm.

Er hatte einen Pfefferminzatem und irgendwie fühlte ich mich auf einmal zu ihm hingezogen.

Ich konnte mich nicht mehr bewegen.

Seine Lippen näherten sich den meinen. Seine Augen waren Tore zu einer dunklen Unendlichkeit.

Ich bekam keine Luft mehr und verspürte eine Leichtigkeit, sodass mir alles egal schien.

Die Tür zum Lagerraum wurde aufgerissen und Astrids Stimme holte mich in die Wirklichkeit zurück.

„Was macht ihr beiden hier?“, wollte sie mit einem schelmischen Unterton wissen.

„Ich hole Verbandsmaterial, sonst nichts“, Ingo hastete nach draußen.

„Was ist mit dir, bist du eingefroren?“, Astrid hatte die Arme verschränkt, als ich an ihr vorbeiging.

Ich wollte ihr eigentlich sagen, dass mit Ingo etwas nicht stimmte, aber ich wusste nicht mehr was. 

Bestimmt würde es mir wieder einfallen.

 

Immer, wenn wir uns in den folgenden Wochen begegneten, blickte Ingo zu Boden und hielt Abstand zu mir.

Und ich wusste nicht  einmal mehr wieso.

Es verstarb in der Zeit niemand mehr auf unserer Station.

Dann wurde eine 16-jährige mit Unterleibsschmerzen zu uns gebracht.

Sie sollte eine Nacht zur Beobachtung bleiben und am nächsten Tag würden weitere Untersuchungen folgen.

Das erste, was der Stationsarzt machen ließ nach Einlieferung in der Notaufnahme, war ein Schwangerschaftstest.

Ich musste ein bisschen lachen. Tatsächlich war er in 90% der Fälle positiv.

Die Eltern waren sauer auf den Arzt, weil sie ihrer Tochter vertrauten, die ein anscheinend wohl behütetes Leben führte. Allerdings war ihre Tochter doch aktiver, als sie es ihr zugetraut hatten, da die Familie ein hitziges Gespräch mit einander führten.

Dennoch war der Test negativ.

Ich war dabei unseren Reinigungswagen vorzubereiten, als der Alarm in ihrem Zimmer anging.

Ich ging hin, um nachzusehen.

Ingo stand am Bett der 16-jährigen, hatte das Kopfteil nach unten gestellt und den Notfalldrücker betätigt.

Die junge Frau hatte die Augen geschlossen und rührte sich nicht.

Plötzlich kamen alle Erinnerungen zurück.

„Geh sofort von ihr weg!“

Ich hatte Angst mich ihm zu nähern, nicht dass er etwas Unbedachtes tat.

„Tu es nicht! Bitte!“, ermahnte ich ihn.

„Sie ist noch nicht so weit. Blinddarmdurchbruch.“ Er ging rückwärts zum Schrank und rührte sich nicht.

Ich beobachtete ihn aus dem Augenwinkel.

Der Alarm piepte immer noch und ich rief nach Schwester Astrid.

Zu dritt schoben wir das Bett Richtung OP. Der Stationsarzt lief nebenher.

Ich nickte Ingo dankbar zu und er nickte zurück.

Kurz nach diesem Zwischenfall war Ingos Zivildienst beendet und ich wurde auf eine andere Station versetzt.

Ich habe Ingo danach nie wieder gesehen. 

Aber an die Geschichte werde ich mich immer erinnern.

 

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