Von Raina Bodyk

 

Die Liebe

„Ilse, kommst du heute Abend mit zu der von den GIs neu eröffneten Bar in der Kronenstraße?“

„Ja, klar! Ich will tanzen, tanzen, tanzen!“

Die neu eröffneten Casinos und Bars, wo sich die Soldaten nachts amüsieren, zieht die Jugend der Stadt unwiderstehlich an. Sie lauscht den mitreißenden Jazz- und Swingmelodien, die durch die geöffneten Fenster nach draußen dringen. Hinein wagen sich die jungen Leute nicht. So tanzen sie auf dem Straßenpflaster, die Mädchen schäkern und kichern übermütig, sobald sich eine Uniform nähert.

Frisch in der Stadt eingetroffen, nähert sich John ‚ihrer‘ Lieblingsbar. Er muss Ilses sehnsüchtigen Blick zur Tür bemerkt haben, lacht belustigt, streckt ihr seine Hand entgegen und führt sie hinein. Schüchtern sträubt sie sich ein bisschen, aber er achtet gar nicht darauf. Er umfängt sie mit seinen muskulösen Armen und wirbelt sie mit schnellen Bewegungen zur Musik herum. Hingerissen überlässt sich sie sich den Melodien, träumt sich weit weg von Trümmern, Ruinen und Hunger. Als sie es wagt, einen verschämten Blick nach oben zu richten, begegnet sie seinen Augen, die lächelnd tief in ihre tauchen. Ihr wird ganz warm ums Herz. Am liebsten würde sie mit ihrer Hand über seine lustige Igelfrisur streicheln.

Nach dem Tanz bringt John sie nach Hause und drückt ihr einen zärtlichen Kuss auf die Lippen. Ihr erster Kuss. Dabei ist sie schon neunzehn! Es gibt keine gesunden, netten Jungs in ihrem Alter mehr in der Stadt.

Seit dem Abend treffen sie sich in jeder freien Minute. Es gibt sie also doch, die berühmte Liebe auf den ersten Blick! Als sie ihre Mutter einmal danach fragte, bekam sie eine Antwort, die sie nicht verstand: „Liebe, was ist das schon?!“
Jetzt weiß sie es. Sie setzt dich auf eine Wolke, malt die ganze Welt rosarot an, lässt deine Lippen pausenlos lächeln. Du möchtest alle Menschen umarmen, möchtest, dass alle so glücklich sind wie du.

 

Der Kriegsheimkehrer

Ende April ist Ilses Vater Konrad von der Ostfront heimgekehrt. Desertiert, bevor es ihn so kurz vor Kriegsende noch ihn erwischen würde. Es dauert nicht lange, bis er feststellen muss, dass seine Frau es mit den Besatzern treibt. Nicht nur mit einem, oh nein!

„Du schamloses Ami-Flittchen! Machst deine Beine breit für den Feind? Die haben unsere Städte zerbombt, Zigtausende getötet.“ Wütend schlägt er der Ertappten brutal ins Gesicht, auf dem sich sofort seine Finger knallrot abzeichnen. „Ich habe täglich mein Leben für euch aufs Spiel gesetzt, lag im Kugelhagel! Und nun stellt sich raus, der Feind ist nicht draußen, er ist im eigenen Heim!“

„Was unterstehst du dich, Mann?!“, faucht seine Frau voll Wut, gemischt mit Ekel, zurück. „Die haben den Krieg wenigstens nicht angefangen. Was glaubst du eigentlich, wie ich deine Kinder ernähren soll? Wir hatten nichts zu beißen, wurden ausgebombt und hausen jetzt hier in diesem Rattenloch. Mit dir habe ich noch einen Esser mehr zu versorgen. Hast du dich darum gekümmert? Nein! Wenn du keine Arbeit findest, geh halt betteln bei den Bauern. Das mussten wir auch! Ich wurde vergewaltigt, habe Trümmer weggeschleppt, mich verprügeln lassen. Mir sagt niemand mehr, was ich tun oder lassen soll!“

 

Die Army

„Herr Major, diese Nacht haben wir bei einer Razzia wieder zwanzig ‚Frauleins‘, die sich nicht ausweisen konnten, eingesammelt und sie auf Geschlechtskrankheiten untersuchen lassen.“

„Gut, Benson. Aber dennoch, das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein. In den größeren Städten bieten sich oft über 20.000 wilde Prostituierte den GIs an. Es ist nicht zu fassen! Sie stehen Schlange vor der Kaserne und warten auf unsere Jungs. Mancherorts ist über die Hälfte der Männer an Syphilis oder Tripper erkrankt. Wir stehen der Lage völlig machtlos gegenüber. Nach den Entbehrungen wollen die Kerle Frauen und Spaß. Dass das Fraternisierungsverbot nicht eingehalten werden kann, hätte der Heeresleitung eigentlich klar sein müssen. So was von weltfremd! Kein Kontakt zu der einheimischen Bevölkerung … Die Männer begegnen Greisinnen, Frauen, Kindern, Schwangeren. Natürlich stecken sie denen was zu, helfen beim Tragen und mehr.“

„Die meisten dieser ‚Veronika Dankeschöns‘(1) sind  einfach Mütter, Schwestern, Töchter, die ihre Familien nicht verhungern lassen wollen, bezahlen dafür mit Sex. Und dass sich die jungen Mädchen danach sehnen, endlich zu leben, ausgelassen zu sein, ein bisschen Liebe abzubekommen, kann ich gut verstehen. Weiß Gott, kein Wunder!“, seufzt sein Adjutant.

 

Die ewig Gestrigen

Konrad sitzt mit seinen Kumpanen im ‚Hirschen‘ beim Stammtisch. Das Thema ist wie jedes Mal die ‚deutsche Frau.‘

„Diese schamlosen Weiber gehören aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen. Denen ist ja sogar die Hautfarbe egal! Hauptsache, sie kriegen feine Nylonstrümpfe, Schokolade, Kaffee und Zigaretten.“ Allgemeines, schmerzliches Kopfnicken.

„Sechs Jahre brauchten unsere Feinde, um uns zu besiegen. Unseren ‚Liebsten‘ dagegen genügt  allein der Anblick einer amerikanischen Uniform, um sich freudig zu ergeben.“

„Und denen aus den KZs schieben die Amis großzügig Klamotten und Fressalien in den Arsch, aber die Bevölkerung muss hungern!“

„‘Wir haben wieder Einquartierung gekriegt, ´ne Mutter mit zwei Kindern. Aber dem Goldstein – erinnerste dich an den? – haben se ´n intaktes Haus zugewiesen. Das ist nicht gerecht.“

 

Die Soldaten

„He, John, deine Ilse ist auf einem der Bilder an der Wand unserer Kaserne“, grinst ein Kamerad diesen an. Der so Angesprochene zuckt zusammen und rennt dann, wie von der Tarantel gestochen, in die Baracke. Sein Blickt rast ungeduldig über die lange Reihe von aufgehängten Fotos. Der Major hat befohlen, in den Kasernen Bilder von Frauen, die sich mit einer Geschlechtskrankheit angesteckt haben, aufzuhängen. Sogar ihre Namen stehen dabei. Als Warnung für die Soldaten.
Dem Himmel sei Dank, Ilse ist nicht dabei. Sein Kumpel, der ihm nachgegangen war, um sich an dessen Schreck zu ergötzen, hat unversehens Johns Faust am Kinn.

„Wag so was ja nicht nochmal! Ich werde Ilse heiraten. Es ist ernst mit uns.“

„Johnny, das meinst zu nicht wirklich? Die Frauleins sind fürs Vergnügen, nicht für den Altar! Ist dein Bruder nicht in der Normandie gefallen? Wie willst du deinen Eltern erklären, dass ihre Schwiegertochter eine verhasste Hitlerbraut ist? Das Heiratsverbot für Soldaten hast du wohl auch vergessen.“

 

Der Untergrund

Der Stammtisch hat sich zu einer verschworenen Truppe gemausert. Man trifft sich nun im Hinterzimmer. Die Erniedrigten, Unzufriedenen, Verzweifelten haben endlich Gleichgesinnte gefunden. Sie alle wollen ihr altes Leben wiederhaben, wollen ihr Ansehen zurück und den gebührenden Respekt von ihren Frauen.

„Wir brauchen neue Flugblätter, die ordentlich reinhauen. So etwa wie: ‚Deutsche Frauen, ihr seid ehrlose Huren! Treibt es mit den Feinden Deutschlands, die viele eurer Männer verkrüppelt oder umgebracht haben. Wie könnt ihr uns noch in die Augen sehen? Im Boden versinken solltet ihr vor Scham.“

Alle nicken einhellig. „Jawoll, genau so!“

Konrad prahlt mit seiner neuesten Heldentat. „Neulich abends haben ein paar Kumpels und ich ein paar von diesen Besatzer-Liebchen aufgemischt und ihren die Schädel kahlgeschoren. Die hättet ihr mal jaulen hören sollen!“

„Geschieht ihnen recht. Übrigens, Leute, ich hab einen schönen Reim gehört: ‚Jedes Ami-Hürle hot a Armbandührle, aber unseroiner – der hot nix!‘“ (2)

Die Männer fühlen sich stark und lachen schallend. „Darauf stoßen wir an. Prost!“

 

Die Presse

Ilse liegt selig in den Armen ihres Geliebten. Plötzlich runzelt sie die Stirn, als ihr einfällt, was sie flüstern gehört hat.

„Johnny, stimmt es, dass eure ‚New York Times’ geschrieben hat, dass die deutschen Frauen die am leichtesten zu habenden weißen Frauen sind?“

„Ja, schon. Aber denk dir nichts dabei. Das ist alles nur Zeitungsgewäsch.“

„Denkst du, ich bin auch leicht zu haben? Meinst du es nicht ernst mit mir?“

„Aber Darling, natürlich tue ich das. Ich habe mich von dem Moment an in dich verliebt, als ich dich zum ersten Mal vor der Bar gesehen habe.“

„Küss mich!“

 

Die Hochzeit

Am 5. Januar 1946 steht ein strahlendes Brautpaar vor dem Traualter und wechselt die Ringe.

Ilses Vater bleibt der Hochzeit fern. Das war zu erwarten und die Frauen sind froh darüber. Konrad spuckt seinen Unwilllen über die erneute Schmach durch seine Tochter lieber am Stammtisch mit deutlichen Worten aus.

Das amerikanische Militär reagiert ebenfalls erbost auf die Überschreitung des Heiratsverbotes.

Der Major befiehlt John umgehend zu sich: „Sergeant, was zum Teufel hat Sie geritten, Ihre Freundin zu heiraten? Ist Ihnen denn nicht klar, dass das Konsequenzen hat? Damit haben Sie sich, weiß Gott, keinen Gefallen getan. Sie wissen, dass jegliche Eheschließung eines US-Soldaten mit einer Deutschen verboten ist und haben sich schlicht darüber hinweggesetzt. Hätten Sie die Beziehung nicht lassen können, wie sie war? Jetzt tragen Sie die Folgen. Sie werden sofort Ihre Sachen packen und in die Staatenzurückkehren. Seien Sie froh, dass ich Ihre Verdienste schätze, sonst käme Sie das noch viel schlimmer zu stehen.“

„Ich kann nicht weg! Meine Frau ist schwanger!“

„Darüber hätten Sie vielleicht früher nachdenken sollen. Gehen Sie!“

 

Vater Konrad schaut hochzufrieden in Richtung seiner verheulten Tochter, er hat mal wieder rechtgehabt. „Ich habe es dir doch gleich gesagt, das wird nichts.“

Ilse bleibt allein zurück, dem Gespött und den Schmähungen des Vaters und der Nachbarn ausgesetzt. Wird John sein Versprechen halten und sie holen?

 

Das (Happy) End‘

Ihr Mann kann sie endlich nach zwei Jahren zu sich holen. Auf dem Flughafen nimmt er strahlend und stolz zum ersten Mal seinen Sohn, der die gleichen blauen Augen hat wie er, auf den Arm. Nur blond ist er nicht.

Johns Eltern können sich mit der deutschen Schwiegertochter nicht abfinden, wollen ihr Enkelkind nicht einmal sehen. Sie brechen jeden Kontakt ab. Nun haben sie zwei Söhne durch die verhassten Feinde verloren.

 

 

 

  • (1) Der Name ist eine Anspielung auf die Veneral Diseases (VD), Geschlechtskrankheiten
  • (2) https://www.lpb-bw.de/publikationen/besatzer/us-pol6.htm

 

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