Von Vanessa Wedekämper

Lauf nicht alleine im Dunklen. Trink nicht zu viel. Lass dein Glas beim Feiern nie unbeaufsichtigt. Wer kennt sie nicht? Diese typischen Mütterratschläge, die sie einem jedes Mal einbläuten, sobald man das Haus verlässt. So auch dieses Mal.

 

Ich war vor ein paar Tagen neunzehn geworden, als bei uns ein großes Fest stattfand. Eins dieser typischen Kleinstadtfeste, mit Live-Musik, viel Alkohol und alle paar Meter traf man auf ein bekanntes Gesicht. Für mich war es immer das Highlight des Jahres. Neben Weihnachten und Silvester natürlich. Diesen Abend wollte ich mit meinen besten Freunden Benny, Lisa und ihrem Freund Marco verbringen.

 

Obwohl ich pünktlich am Treffpunkt ankam, waren die drei schon da. Anna begrüßte mich mit den Worten: „Jetzt stoßen wir erst nochmal auf deinen Geburtstag an.“ Und drückte mir eine kleine Feigling-Flasche in die Hand. Doch vorher stimmte Benny ‚Happy Birthday‘ an und die beiden anderen setzen gleich mit ein. Benny sang wieder so herrlich schief, dass ich Grinsen musste. Und obwohl ich ihn jedes Mal auslachte, ließ er sich nicht davon abhalten. So war er einfach. Es war ihm nur wichtig, dass es den Menschen, die er liebte, gut ging. Was andere dachten, war ihm egal. Und dafür bewunderte ich ihn ein bisschen. Ich war so in Gedanken, dass ich erst merkte, dass das Lied zu Ende war, als die anderen ihre Fläschchen erhoben hatten. Ich riss auch meins hoch und das Klirren läutete einen hoffentlich unvergesslichen Abend ein.

 

Schon an der ersten Bierbude hielten wir an. Am liebsten wäre ich gleich tanzen gegangen. Aber Marco wollte sich erst Mut antrinken und bestelle uns eine Runde. Was gar nicht so einfach war, denn schon hier übertönten das Stimmengewirr und der ferne Bass unsere Stimmen. Als Marco mir das Bier reichte, nahm ich mir vor den Rest des Abends bei Bier zu bleiben. Ich wollte mich an den Rat meiner Mutter halten und mich nicht zu sehr betrinken.

 

Dieser Vorsatz hielt aber nur zwei Stunden. Benny und ich waren in einem der Partyzelte. Die beiden anderen hatten wir längst verloren. Sie waren kurz mit Bekannten, etwas trinken und seitdem waren sie verschollen. Ich tanzte zu ‚Summer of ´69‘, als gäbe es nur mich und die Musik. Benny stupste mich leicht an und schrie mir ins Ohr: „Ich brauch was zu trinken? Du auch?“ Im Takt der Musik schüttelte ich den Kopf. Er verschwand in der Menge und ich kostete die letzten Takte des Songs aus.

 

 Kaum hatten die Spice Girls ‚Wannabe‘ angestimmt, nutzte ein junger Mann, etwa in meinem Alter seine Chance und tanzte mich an. „War das dein Freund?“, fragte er und kam meinem Ohr unangenehm nahe. Ich versuchte, ihm zu erklären, dass ich keinen Freund und zurzeit auch kein Interesse an irgendwelchen Männergeschichten hatte. Das sah er aber leider nicht als Grund, wieder zu seinen Freunden zu gehen. Oder wo auch immer er herkam. Warum hatte ich das nicht einfach bejaht? Dann wäre ich ihn los. Egal, jetzt war es eh zu spät. Da ich keine Lust hatte, weiter mit ihm zu tanzen, drehte ich mich um und wollte gehen. Er packte mich an der Schulter und drehte mich wieder zu sich. „Du kannst doch jetzt nicht schon gehen“, schrie er, aber wahrscheinlich nur, um gegen die Musik anzukommen. „Doch, ich hab keine Lust mehr zu tanzen.“ Und ging los, ohne überhaupt zu wissen wohin. In dem Moment schnappte er mich am Handgelenk. „Spinnst du?“, schrie ich. Hektisch suchte ich nach Benny. Unmöglich. In dieser Menschenmenge könnte er überall sein. „Na komm, wir machen uns einen schönen Abend“, schrie er und zog leicht an meinem Arm. Mein Puls raste. „Lass mich los!“ Ich versuchte, mich zu befreien. Der Griff wurde immer fester. „Du tust mir weh!“ Ich wollte gerade das Pärchen neben mir auf mich aufmerksam machen, da hörte ich ihn. „Hörst du schlecht? Sie will nicht.“ Bennys Stimme  erkannte ich überall wieder. Zögernd ließ der Kerl meine Hand los, während er Benny musterte. Er drückte mir zwei Cocktails in die Hände und baute sich mit verschränkten Armen vor dem Kerl auf. Schon war der weg. Die umstehenden Leute hatten von dem Ganzen nichts mitbekommen.

 

Wir suchten uns erstmal einen Tisch, tranken die Cocktails und schwiegen. Gut, dass Benny mir doch einen mitgebracht hatte, auch wenn der mir etwas zu bitter war. Der Barkeeper hatte wohl etwas viel Cranberrysaft benutzt. Ich hatte mein Glas mit ein paar großen Schlucken schon halb geleert, da stießen die beiden anderen wieder zu uns. Benny erzählte ihnen von dem Vorfall, während ich den letzten Rest trank. „Gut, dass ich nicht dabei war, sonst hätte der Kerl richtig was erlebt“, sagte Marco und schlug demonstrativ mit der Faust in seine offene Hand. Ein wenig angetrunken stand ich auf. „Hab kein‘ Lust mir von dem ´n Abend versauen zu lassen. Kommt ihr tanzen?“  

 

Der Bass wummerte. Jeder Schlag schien lauter als der davor. Die Scheinwerfer tanzten in den buntesten Farben mit uns, dabei strahlten sie eine unglaubliche Wärme ab. Ich brauchte eine Pause. Es war viel zu warm, um sich so anzustrengen. Ich hörte auf zu tanzen, aber der Raum hörte nicht auf sich zu drehen. Langsam schaffte ich es, mich zu orientieren. Ich nahm Annas Hand und zog sie in Richtung Rand, zu einer Tischgruppe. „Du wolltest doch tanzen.“ Sie stand direkt neben mir, aber ihre Stimme klang, als wäre sie weit weg. Ich versuchte, mich zu setzten. Aber ich verfehlte die Stuhlmitte und wäre fast heruntergefallen. „Hat sie so viel getrunken?“, hörte ich Anna fragen. Erschöpft ließ ich meinen Kopf auf den Tisch sinken. In der Ferne hörte ich die anderen reden. Aber ich machte mir gar nicht erst die Mühe zuzuhören.

 

Anna stupste mich an. Genervt setzte ich mich auf. Sie hielt mir ein Strohhalm vors Gesicht. Widerwillig nahm ich einen Schluck und merkte erst jetzt, wie durstig ich war. 

 

„Wir bringen sie besser zu mir nach Hause. Das ist näher und ihre Mutter muss es ja nicht unbedingt mitbekommen“, sagte Benny. Etwas ungelenk stützte ich mich beim Aufstehen an ihm ab. Er legte seine Hand um meine Taille und zusammen mit den anderen liefen wir zu seiner Wohnung. Obwohl die nur zehn Minuten entfernt lag, dauerte der Weg eine Ewigkeit.

 

Ich weiß nicht, wie ich da hingekommen war, aber irgendwann plumpste ich auf eine weiche Matratze. Irgendwo in der Ferne hörte ich Anna. Sie sagte irgendwas mit einem Arzt. Was genau verstand ich nicht. Es war mir auch egal. „…kümmere mich um sie“, sagte Benny, während er sich zu mir setzte.

 

„Du schläfst ja immer noch nicht“, sagte Benny sanft. Wie sollte ich auch? Ich hatte das Gefühl, das Bett würde wackeln und mir war übel. Ich hatte Durst, aber ich konnte mich kaum bewegen. Ich wusste, das war nicht normal. Ich wusste, ich sollte Angst haben. In Panik geraten. Aber ich war so erschöpft. Selbst meine Gedanken fühlten sich an, als wären sie zähflüssig. „Ich hätte wohl ein paar Tropfen mehr in dein Glas kippen sollen. Aber morgen hast du eh alles vergessen.“ Er lachte auf.  Langsam schaffte ich es, eins und eins zusammenzuzählen. Endlich wurde ich panisch. Ich versuchte, mich umzudrehen. Aber mein Körper gehorchte mir einfach nicht.  Hatte er das mit der Panik nicht verstanden? Wieso machte er nicht endlich? Nur langsam schaffte ich es, mich ein kleines Stück zu drehen. Doch ein kleiner Stoß von Benny gegen meine Schulter und ich landete wieder auf dem Rücken. Er grinste. Ein Grinsen, dass ich noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Ich schrie, versuchte nochmal, zu flüchten. Diesmal schaffte ich es, mich zu drehen. Ich kroch. Zog mich mit aller Kraft an der Matratze voran. Mit dem nächsten Griff hatte ich die Kante erreicht. Mit letzter Kraft zog ich mich über die Kante. War bereit, auf dem Boden zu landen. Doch seine Hände packten mich an der Taille. Er drehte mich wieder um und zog mich das hart erkämpfte Stück wieder zurück. Mein Rock rutschte hoch und mein Kopf fiel auf die Seite. Das Mädchen in Spiegel starrte mich mit leeren Augen an. Sie hatte aufgegeben und ich tat es ihr gleich. Lethargisch lag ich da, ließ seine dumpfen Berührungen über mich ergehen. Ich hörte einen Reißverschluss. Das Geräusch war weit entfernt. Das, was er mit mir tat, war es nicht. Wie konnte er nur so etwas schreckliches tun. Er war doch mein Freund. Ich hab ihm vertraut.  Die ganze Zeit schaute ich auf das Mädchen im Spiegel. Eine Träne floss ihr über die Wange.

 

Noch nie in meinem Leben hatte ich so einen Kater. In meinem Kopf dröhnte es.  Ein Blick in den Spiegel neben mir verriet: Ich sah nicht besser aus, als ich mich fühlte. Es dauerte einen Augenblick, bis ich wusste, wo ich war. Ich lag bei Benny im Schlafzimmer. Er hatte mir die Schuhe ausgezogen und mich liebevoll zugedeckt. Der Duft von frischem Kaffee stieg mir in die Nase. Schon klopfte es an der Tür. Trotz zwei Tassen Kaffee in der Hand, öffnete Benny geschickt die Tür. Er reichte mir eine und setzte sich auf die Bettkante. Gierig nahm ich einen Schluck und sagte: „Alter, ich hab nicht nur einen fetten Kater, ich hab auch noch einen Filmriss.“ Benny grinste, dieses neckische Grinsen, dass nur er drauf hatte. „Ja, du warst auch ziemlich gut dabei“, sagte er. Dann wurde er ernster: „Vielleicht hat der Typ, der dich gestern so übel angebaggert hat, dir auch was in den Drink gekippt. Kannst du dich noch an den erinnern?“ Tatsächlich konnte ich mich an ihn noch erinnern. Bei den Gedanken an gestern Abend stieg mein Puls plötzlich an. Ich bekam Panik. Aber ich wusste nicht wieso. Da war nur diese Angst. Und das Gefühl fliehen zu müssen. Benny legte seine Hand auf meine und sagte sanft: „Du keine Angst. Ich habe dich den ganzen Abend nicht mehr aus den Augen gelassen. Er hätte dir nichts tun können.“ Mein Herz raste noch immer. Aber Benny war mein bester Freund und ich vertraute ihm uneingeschränkt. 

 

Lauf nicht alleine im Dunklen. Trink nicht zu viel. Nehm keine Getränke von Fremden an. Aber was, wenn der Feind nicht der Fremde, sondern dein Freund ist?

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