Von Angelika Brox

So könnte es ewig bleiben, dachte ich.
Ich saß am Strand, ließ den feinen Sand durch die Finger rieseln, spürte die Sonne auf meiner Haut und den Wind in den Haaren, atmete den salzigen Duft des Meeres ein, schaute den Möwen nach und der Horizont öffnete sich weit – weit wie die Zukunft, die vor mir lag. Neben mir saßen Lena und Lisa. Wir drei waren zusammen an die Nordsee gefahren, um die neue Freiheit zu genießen. Das letzte halbe Jahr hatten wir gemeinsam gelernt, bis in unsere Gehirne nichts mehr hineinpasste. Zum Abi hatten meine Eltern uns eine Woche auf dem Campingplatz spendiert. Ohne die superintelligenten Zwillinge wäre ich nämlich wohl durchgefallen. Dabei war ich sowieso schon ziemlich alt, fast zwanzig. In der Grundschule wurde ich wegen meines Stotterns ständig gemobbt, deshalb wechselte ich in der vierten Klasse auf eine andere Schule und musste ein Jahr wiederholen. Ich bekam Unterricht bei einer Logopädin und inzwischen stotterte ich kaum noch, höchstens, wenn ich aufgeregt war.

Mein Blick fiel auf einen Windsurfer, dessen buntes Segel wie ein großer Schmetterlingsflügel in der Sonne leuchtete und den Wind einfing. Er glitt am Ufer entlang und zog eine Spur aus weißer Gischt hinter sich her. Nach einer Weile steuerte er das Brett in eine Kurve hinein, hüpfte um den Mast herum, fasste das Segel von der anderen Seite und rauschte wieder zurück. Das alles passierte schneller, als ich schauen konnte. Wie hatte er das nur gemacht?
Fasziniert beobachtete ich die Manöver des Surfers und bewunderte, wie elegant er sich auf seinem Brett bewegte – bis etwas Kaltes gegen meinen Arm stieß.
„Hey, Franzi!“ Lena hielt mir lachend eine Flasche Wasser hin. „Wo bist du denn mit deinen Gedanken? Ich hab dich schon dreimal gefragt, ob du was trinken willst.“
„Danke.“ Ich öffnete die Flasche und nahm ein paar Schlucke.
Aus den Augenwinkeln sah ich, wie der Surfer sein Brett ans Ufer trug, das Segel ablegte und sich in den Sand setzte. Er zog den Reißverschluss seines hautengen Neoprenanzugs ein Stück weit herunter. Seine blonden Haare wirkten wie von der Sonne aufgehellt.
Lisa kicherte. „Ich weiß, warum unsere Franzi nicht mehr ansprechbar ist.“ Sie deutete auf den Surfer. „Der süße Junge hat ihr den Kopf verdreht!“
„Quatsch“, brummelte ich. „Windsurfen sieht einfach cool aus. Das würde ich auch gerne können.“
„Geh doch hin und frag ihn, ob er‘s dir beibringt“, schlug Lena vor.
„Auf gar keinen Fall!“
„Na los, trau dich!“
„Nein! Das ist peinlich!“
Wir diskutierten eine Zeitlang hin und her, bis Lisa sagte: „Zu spät.“
Der Surfer hatte mittlerweile seine Ausrüstung zum Parkplatz getragen und zurrte sie nun auf dem Autodach fest. Gleich würde er davonfahren.
„Verpasste Chance“, höhnte eine mir gut bekannte Stimme in meinem Kopf.
Als ich dem Auto nachschaute, zog ein Gefühl des Bedauerns wie ein leiser Schmerz durch meinen Bauch.

Abends fand im Nachbarort ein Open-Air-Konzert statt. Das wollten wir uns natürlich nicht entgehen lassen.
Am Ortsausgang bog Lena zu einer Tankstelle ab.
„Vielleicht reicht der Sprit noch hin und zurück, aber sicher ist sicher“, meinte sie.
Lisa stieg aus und wollte gerade die Zapfpistole aus der Halterung ziehen, als sie plötzlich umdrehte und in unseren Wagen zurücksprang.
„Da drüben!“, flüsterte sie aufgeregt. „Guckt mal, wer da sein Auto betankt!“
Meine Augen folgten ihrem Zeigefinger und tatsächlich, dort stand er, der niedliche Surfer von heute Nachmittag. Prompt beschleunigte sich mein Herzschlag.
„Das ist ein Zeichen!“, zischte Lisa. „Jetzt oder nie!“
„Genau“, pflichtete Lena ihrer Schwester bei, „das Schicksal will, dass du ihn ansprichst.“
In meinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander wie Notizzettel im Sturm. Ich spürte, dass meine Wangen anfingen zu glühen.
„Was soll ich denn sagen?“, fragte ich verzweifelt.
Lena blieb völlig gelassen. „Frag ihn doch, wo genau das Konzert stattfindet. Vielleicht will er ja auch hin.“
„Super Idee“, lobte Lisa und zog mich aus dem Auto.
„Los jetzt!“, flüsterte sie mir zu. „Denk dran: Drachen steigen am höchsten gegen den Wind, nicht mit ihm. – Ist von Churchill.“
Sie gab mir einen leichten Schubs und ich stolperte vorwärts wie eine Marionette.
Dem Jungen war der Aufruhr natürlich nicht entgangen. Erwartungsvoll schaute er mir entgegen. Sein Gesicht wirkte offen und freundlich. Aus der Nähe sah er noch besser aus. Er war mindestens zwanzig. Seine Augen leuchteten meerblau.
Ich müsste ihm jetzt endlich mal meine Frage stellen, sonst würde die Situation zu peinlich.
„Eh-eh-Entschuldigung“, stammelte ich, „weißt du vielleicht, wo-ho hier eine Tankstelle ist?“
Hitze überflutete meinen Körper. Hatte ich gerade wirklich Tankstelle gesagt? Bitte nicht! Lass mich das nicht gesagt haben!
Doch leider wurde mein Wunsch nicht erhört, wie ich an dem verdatterten Gesichtsausdruck des Surfers und dem schallenden Gelächter der Zwillinge erkannte.
Blind vor Scham rannte ich zurück zu unserem Auto, sprang hinein und rief Lena zu: „Los, fahr! Bloß weg hier!“
Zum Glück tat sie mir den Gefallen und raste mit quietschenden Reifen vom Hof.

Die Band spielte nicht besonders gut, aber schön laut. Ich stand am Rand des Publikums, hielt eine Flasche Bier in der Hand, wippte ein bisschen mit dem Fuß und fuhr meinen Adrenalinspiegel allmählich wieder herunter.
Plötzlich tippte mir von hinten jemand auf die Schulter. Kaum hatte ich mich umgedreht, schoss mir schon wieder das Blut ins Gesicht, denn vor mir stand der Surfer.
„Weißt du, wo hier ein Konzert stattfindet?“, brüllte er mir ins Ohr.
Vor Schreck bekam ich kein Wort heraus. Doch dann zwinkerte er mir zu und lächelte. Um seine strahlenden Augen bildeten sich Lachfältchen. Er sah so nett aus! Meine Aufregung flog davon wie ein Wattewölkchen am blauen Himmel. Vielleicht hatte Lena ja Recht mit dem Schicksal!
Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und rief ihm ins Ohr: „Dasselbe hatte ich dich auch fragen wollen!“
„Dachte ich mir schon!“ Er grinste und reichte mir seine Hand. „Komm, wir suchen zusammen! Hast du Lust zu tanzen?“

 

 

V2
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