Von Helmut Blepp

Der Besucher betritt das Foyer. Mit dem ermutigenden Lächeln, das er zuhause eingeübt hat, fühlt er sich gut vorbereitet. Er orientiert sich kurz und geht zu dem verglasten Empfangstresen.

„Ich möchte zu Frau Marie“, sagt er selbstbewusst. 

Die Pförtnerin schaut nicht einmal hoch von der Liste, an der sie arbeitet, und zeigt auf eine Glastür rechts von ihr. 

Er folgt diesem Hinweis in einen hell erleuchteten Flur, in dem jeder Schritt auf dem gefliesten Boden klackt und als Echo von den ebenso gefliesten Wänden widerhallt. Die Beleuchtung ist so grell, dass er, zunächst geblendet, die Umgebung nur unklar erkennt, dann aber feststellt, dass er sich in einer Art von Tunnel befindet, von dem weder Türen noch weitere Gänge abzweigen. Nur am anderen Ende des Flurs in einer schwer abzuschätzenden Entfernung sieht er eine weitere Tür. Als er sich dahin auf den Weg machen will, hört er über sich ein metallisches Kratzen, und aus dem Rauschen eines verborgenen Lautsprechers heraus ertönt eine emotionslose Stimme: 

„Achtung! Achtung! Wichtige Durchsage: Frau Marie, wenn Sie Ihr Frühstück beendet haben, nehmen Sie bitte die blau-weiße Kapsel ein. Bitte, die blau-weiße Kapsel! Ende!“ 

Für einen Moment ist der Besucher unentschlossen. Dann aber geht er los, weil er glaubt, dass Marie auf ihn wartet. Er setzt einen Fuß vor den anderen, doch je länger er unterwegs ist, desto stärker wird sein Gefühl, dass er sich immer weiter von der anvisierten Tür entfernt. Nun forciert er seine Schrittfolge mit dem Effekt, dass er sich fühlt, als würde er sich auf einem Laufband bewegen, weil er in Wahrheit nicht von der Stelle kommt. Erst als er förmlich rennt, schiebt er sich langsam vorwärts und erreicht schließlich schwer atmend sein angestrebtes Ziel. Erleichtert hält er inne. Dann drückt er gegen die Glastür, aber sie öffnet sich nicht. Er muss sein ganzes Körpergewicht dagegenstemmen, um zu erreichen, dass sie mit einem schmatzenden Laut nachgibt. Er stolpert unbeholfen hindurch. 

Rechts von ihm befindet sich nun eine gemauerte Wand, und auch geradeaus gibt es keinen Durchgang, so dass ihm nur die Möglichkeit bleibt, linker Hand einem weiteren Flur zu folgen, der mit Oberlichtern versehen ist, was bewirkt, dass die weiß gekachelten Wände das gleißende Strahlen der Wintersonne reflektieren. 

Auch diese neue Etappe seines Besucherwegs scheint kein Ende nehmen zu wollen. Eine nächste Tür ist nicht in Sicht. Nichtsdestotrotz schreitet er unverdrossen voran. Dabei verliert er jegliches Zeitgefühl, und als er schließlich an das Ende dieses Flurs gelangt, vermag er gar nicht abzuschätzen, wie lange er denn unterwegs gewesen ist. 

Vor seinen erstaunten Augen dehnt sich jetzt völlig unerwartet der enge Korridor, den er durchquert hat, zu einer in makellosem Weiß gehaltenen Halle mit den Dimensionen einer Kathedrale aus. Da er sich auf einer Zwischenebene des Gebäudes befindet, kann er, durch eine Balustrade gesichert, einen feingeäderten Marmorboden weit unter sich erkennen, während sich über ihm die Hallendecke zu einer grandiosen mit Stuckornamenten verzierten Kuppel wölbt. 

Der einzige Weg von der Seite der Halle, auf der er sich befindet, zum gegenüberliegenden Gebäudetrakt führt über eine schmale Hängebrücke, die aus dicken Stahlseilen und matt lackierten aus Aluminium geformten Trittbrettern besteht. Angesichts dieser, nach seinem Dafürhalten, wenig vertrauenswürdigen Konstruktion, zögert er zunächst. Doch da er glaubt, dass Marie auf ihn wartet, überwindet er seine Bedenken und betritt widerwillig diesen schwankenden Steg. Mit beiden Händen die metallisch kalten Handläufe an den Seiten umfassend, bewegt er sich unsicher weiter, wobei er ständig seine Schuhspitzen betrachtet, um nicht in die Tiefe rechts und links schauen zu müssen. 

Mit einem Mal reißt ihn ein lautes Räuspern aus diesem, wie er es empfindet, schwierigen Balanceakt. Er hebt den Blick und sieht sich mitten auf der Brücke mit einer gestärkten weißen Bluse konfrontiert, die einen unverkennbar ausladenden Busen verhüllt. Und als er den Kopf zurücklegt, sieht er über diesem Busen einen stämmigen Hals und darüber das grimmige Gesicht einer offenkundig ungehaltenen Krankenschwester. 

„Würden Sie mich wohl vorbeilassen“, bellt sie ihn an. 

Der eher schmächtige Besucher überlegt, wie dieser Aufforderung nachzukommen sei und wird leicht panisch, denn mit großer Mühe, so schätzt er ein, könnte es ihm eventuell gelingen, sich an dieser mächtigen Erscheinung vorbeizuschieben, doch dabei käme er nicht umhin, seinen Leib eng an den ihren zu pressen und sein Gesicht in ihr Brustschild zu vergraben. Ihm graut vor dieser Vorstellung, und so bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich langsam umzudrehen und die bereits absolvierte Strecke zurückzugehen, während die Schwester ihm missmutig hinterherstapft und die Brücke dadurch in noch größere Schwingungen versetzt. Ihm ist, als fühle er ihren heißen Atem im Nacken, und sobald er festen Boden unter den Füßen hat, springt er zur Seite, um sie vorbeizulassen. Er hört noch ein triumphales „Geht doch!“, und schon ist sie um die Ecke verschwunden. 

Erneut betritt er nun die noch immer leicht schwankende Brücke, bemüht, sie möglichst schnell zu überwinden, aber seine vorsichtigen Trippelschritte verhindern ein zügiges Vorankommen. Ein ums andere Mal von seinen Füßen aufblickend, vergewissert er sich, dass ihm auch niemand entgegenkommt. Er hat Glück, und als er nach geraumer Zeit diesen unliebsamen Übergang hinter sich gelassen hat, atmet er erleichtert auf. Doch noch ehe er sich mit der neuen Umgebung vertraut gemacht hat, vernimmt er das schon bekannte kratzende Geräusch, und aus einem Lautsprecher, dessen Standort ihm verborgen bleibt, erklingt die unpersönliche Stimme.

„Achtung! Achtung! Wichtige Durchsage: Frau Marie, wenn Sie Ihr Mittagsmahl beendet haben, nehmen Sie bitte die rosa Pille ein. Bitte, die rosa Pille! Ende!“ 

Der Besucher ist zunächst einigermaßen irritiert, dann aber schaut er sich, seine Position erkundend, um und stellt fest, dass er sich nun auf einer Plattform befindet, in die mehrere Korridore einmünden. Keiner dieser Zugänge ist mit etwaigen Hinweisen versehen, und so wählt er in seiner Ratlosigkeit den aus, der am wenigsten schwach beleuchtet ist. Was er da vor sich sieht, ist ein wiederum schier endlos langer Flur, dessen Wände mit weißen Kunststoffplatten verschalt sind, in die in regelmäßigen Abständen ebenfalls weiße Türen eingelassen wurden, die, soweit er feststellen kann, keinerlei Beschriftungen tragen. In die Decke sind ohne erkennbare Ordnung sporadisch unterdimensionierte Neonröhren montiert, die für kleine Lichtinseln in einem diffusen Dämmerschein sorgen. 

Bedächtig seine Schritte setzend, begibt er sich auf diesen neuen Weg. Dabei bleibt er von Zeit zu Zeit stehen, um zu lauschen, was in den hinter den Türen liegenden Räumen passiert, deren Funktion ihm verborgen bleibt. Aber es dringt nicht der leiseste Ton zu ihm. Schließlich wagt er es, ein Ohr an eine der Türen zu pressen. Nichts. Stille. 

Als er enttäuscht weitergehen will, sieht er in einiger Entfernung vor sich die Umrisse einer Person. Eilig bewegt er sich dahin und trifft auf einen großen beleibten Herrn in einem weißen Kittel, auf dessen Brusttasche mit einem Filzstift das Wort `Stiftsarzt´ gekritzelt wurde. 

„Verzeihen Sie“, spricht der Besucher ihn aufgeregt an. „Können Sie mir sagen, wo ich Frau Marie finde?“ 

Der Arzt mustert ihn ausgiebig und fragt dann seinerseits: „Erwartet Frau Marie Sie denn?“ 

„Nein.“ 

„Haben Sie denn einen Besucherausweis?“ 

„Nein.“ 

„Na, das wird aber eine Überraschung.“ 

Der Arzt lacht heftig auf, ohne dabei wirklich eine Miene zu verziehen und sagt in sachlichem Ton: „Gehen Sie einfach bis zum Ende des Flurs und wenden Sie sich dort nach links.“ 

Der Besucher folgt diesem Hinweis, macht drei Schritte, hält dann aber inne und wendet sich um, weil er dem Arzt noch danken will, doch der Flur hinter ihm ist leer. Achselzuckend geht er weiter. 

Die Dimensionen des Gebäudes sind ihm ein Rätsel. Jede Etappe seines Weges scheint ihm länger und beschwerlicher als die vorherige. Langsam macht sich ein Gefühl der Erschöpfung in ihm breit. Umso erleichterter ist er, als er endlich doch das Ende des dämmrigen Flurs erreicht und links um die Ecke biegt. Nach nur wenigen Schritten steht er nun vor einer breiten weißen Metallplatte und stellt fest, dass es sich um die Tür eines Aufzugs handelt. Entschlossen drückt er auf den Rufknopf, worauf sofort das Surren eines Motors ertönt. Kurze Zeit später gleitet die Tür zur Seite, so dass er die ebenfalls nur schwach beleuchtete Kabine betreten kann. Er schaut sich kurz um und findet die Wahlleiste, auf der sich allerdings nur eine unbeschriftete Taste befindet. Er betätigt sie mit einem Daumendruck. Sogleich schließt sich die Tür, und der Lift beginnt leicht ruckelnd die Fahrt nach unten. 

Das kratzende Geräusch erklingt unvermittelt und unangenehm laut in dem engen Raum, die nachfolgende Durchsage wirkt emotionslos wie zuvor schon: 

„Achtung! Achtung! Wichtige Durchsage: Frau Marie, wenn Sie Ihr Abendmahl beendet haben, nehmen Sie bitte den bernsteinfarbenen Saft ein. Bitte, den bernsteinfarbenen Saft! Ende!“  

Der Besucher trägt zwar keine Uhr, doch ist es ihm bewusst, dass er nun schon lange unterwegs sein muss und der Tag weit vorangeschritten ist. Deshalb bleibt er gefasst und lehnt sich müde an die Wand, bis der Aufzug in leichte Vibrationen gerät und dann abrupt anhält. Einige Minuten vergehen ereignislos, dann aber öffnet sich die Tür zur Seite und grelles Licht dringt ein. Zunächst noch geblendet, tritt er in dieses kalte Strahlen hinein. Seine Augen gewöhnen sich nur langsam an die unerwartete Helligkeit, und hinter dem Flimmern, das sein Blickfeld stört, bilden sich fast widerstrebend Schemen heraus, aus denen schließlich die Ansicht einer von unzähligen Glühlampen erleuchteten Halle entsteht, in deren Mitte ein verwaister Empfangstresen thront. 

Ratlos schaut er sich um und entdeckt zu seiner Freude in einiger Entfernung einen beeindruckend großen weiß gekleideten Mann, der offenbar ein prunkvolles Portal bewacht, durch dessen getönte Glastüren die hereinbrechende Dämmerung zu beobachten ist. Draußen gießt es in Strömen. 

Eilig geht er auf den Türwächter zu. Erst da fällt ihm auf, dass dieser eine elegante weiße Uniform trägt, die mit Goldlitzen verziert ist. Noch ehe er dazu kommt, wenigstens einen Gruß auszusprechen, lässt der Portier ein sonores „Auf Wiedersehen, der Herr!“ vernehmen und macht sich anheischig, einen Türflügel aufzuziehen. 

„Nein, nein“, sagt der Besucher hastig, „Ich möchte noch nicht gehen. Eigentlich will ich nur fragen, wo ich Frau Marie finde. Könnten Sie mir weiterhelfen?“ 

„Tut mir leid, mein Herr! Die Besuchszeit ist beendet.“ 

„Aber …“

„Kein `Aber´, mein Herr“, sagt der Wächter nun deutlich energischer. „Die Besuchszeit ist beendet. Kommen Sie morgen wieder!“ 

Um seine Aufforderung zu unterstreichen, reißt er die Tür kraftvoll auf und scheucht den Besucher mit einem ungeduldigen Winken hinaus. Der steht unvermittelt im eiskalten Regen und starrt auf die Platanen, die den Vorplatz der Gebäudeanlage säumen. Ihre Kronen wiegen sich im heftig auffrischenden Wind. 

Noch einmal wendet sich der Besucher um, sieht zu dem Portier hinein, der ihn keines Blickes mehr würdigt, und schaut ratlos zur prächtigen Fassade des Marienstifts auf. Dann stellt er seinen Mantelkragen hoch und geht durch den anschwellenden Sturm nach Hause.