Von Eckhard Schünemann

Er hatte sich tatsächlich entschuldigt und hasste sich dafür. Es war auch wirklich grotesk. Er hatte seine drei Frauen, Evelyn und die Kinder, zum Flughafen gebracht, von wo aus sie in den Urlaub auf die Kanaren gestartet waren. Ja, und er hatte sich entschuldigt, weil er nicht mitflog. Und warum flog er nicht mit? Weil er arbeiten musste, um seinen Lieben eben diesen Urlaub und ähnlichen Schnickschnack zu finanzieren. 

Was war nur aus ihm geworden? Er hatte mit dem Ziel studiert, Professor für Neuere Geschichte zu werden. Er hatte Bücher schreiben wollen zum Beispiel über den Widerstand gegen Hexenwahn und Hexenverfolgung oder über das Leben in belagerten Städten während des Dreißigjährigen Krieges. Er hatte auch für den Laien interessant und lebendig beschreiben wollen, wie die Menschen damals in dieser Extremsituation handelten, fühlten und dachten. Und dann hatte er auf die Vernunftprediger gehört, die natürlich nicht völlig Unrecht hatten. Im Prinzip strebten alle Studenten der Magisterstudiengänge Dozentenposten an, und um die wenigen freien Stellen gab es sicher ein entsetzliches Hauen und Stechen. Und seine „vernünftige“ Entscheidung, die Uni mit dem Magister zu verlassen, hatte materiell sicher Früchte getragen. Er hatte seitdem wirklich nicht schlecht verdient, aber was war er jetzt? Genau genommen ein besserer Vertreter, der zu den Leuten fuhr und ihnen irgendwelches Zeug andrehte. Und die Kunst in seinem Job bestand neben dem Beherrschen einer gewissen Verkaufsrhetorik darin, den Kunden unter dem Anschein von Souveränität und Stärke in den Arsch zu kriechen, sich also so einzuschleimen, dass sie es nicht merkten. Er beherrschte diese Kunst, zugegebenermaßen, aber das änderte nichts daran, dass auch für ihn die Zeiten härter wurden, seit das Geld bei den Leuten nicht mehr so locker saß. Aber was sollte es? Dann arbeitete er eben länger, war elf, zwölf, dreizehn Stunden unterwegs, wenn er dann jedoch nach Hause kam, erwartete ihn Evelyn schlecht gelaunt und gereizt mit dem unausgesprochenen Vorwurf: ‚Du lässt mich mit dem ganzen Kinder- und Haushaltsstress allein. Du vernachlässigst uns.’ 

Wundervoll, sollte er sich etwa teilen?

Er war ein klassisches Opfer des Zeitgeistes, demzufolge Frauen per se und durch Geburt gut, Männer hingegen schlecht waren, so dass unabhängig davon, wer was tat, zumindest in gebildeten Kreisen Frauen als wandelnder Vorwurf, Männer dagegen als personifizierte Zerknirschung durchs Leben liefen. Selbst Vanessa, seine ältere Tochter, schlug schon in dieselbe Kerbe. Wenn sie etwas wollte, kam sie ihm längst nicht mehr auf die Tour ‚Mein allerliebster Papi, willst du nicht deinem süßen, kleinen Mädchen, das dich für den tollsten und großartigsten Papi der Welt hält, eine kleine Freude bereiten?’ Nein, sie argumentierte geradezu beleidigt nach dem Motto: ‚Wenn du schon so wenig Zeit für mich hast, kannst du ja wenigstens’ und so weiter und so fort.

Es war zum Kotzen. Einmal war er ausgerastet, als ihm Evelyn vorwarf, eine Geliebte zu haben. Wenn er bei irgendwelchen ebenso debilen wie komplizierten Kunden für den verwöhnten Haufen zu Hause buckelte und ihm dann auch noch unterstellt wurde, er würde sich sexuellen Exzessen hingeben, von denen er auch in seiner Ehe seit Jahren nur träumen konnte, dann war das wirklich zu viel. Er geigte Evelyn deutlich und keineswegs leise die Meinung und empfand ihre Reaktion als außerordentlich bemerkenswert. Von keinerlei Selbstkritik angekränkelt, teilte sie ihm in vollkommener Ruhe mit, dass endgültig Schluss mit lustig sei, wenn er sich auch noch im Ton vergreife. So etwas wolle und werde sie nie mehr erleben.

Er fragte sich nun nicht mehr, wieso gelegentlich Familienväter Amok liefen, sondern warum es nur so wenige taten. Das hatte nichts mit Wehleidigkeit, sondern mit Scheidungsrecht und der einschlägigen Rechtsprechung zu tun. Wenn er seine Frau verließ, bedeutete das endgültig Sklavenarbeit. Er dürfte dann ohne Ende für das Existenzminimum schuften, während Evelyn den Rest für sich und die Kinder abgriff, die er dann gelegentlich besuchen durfte, falls Evelyn entsprechende Vereinbarungen nicht boykottierte oder ihn auf ebenso abwegige wie niederträchtige Weise verleumdete.

Das waren seine Gedanken, als er auf dem Weg nach Raguhn durch Altjeßnitz fuhr. Bis zum vereinbarten Termin mit dem Kunden hatte er noch gut eine halbe Stunde Zeit, und er wollte auf keinen Fall die Unhöflichkeit begehen, zu früh zu erscheinen. Da las er das Schild „Irrgarten“ und hielt. Ein Irrgarten war interessant, nur durfte er sich dort nicht zu lange verlaufen.

 

Sie war vor einem halben Jahr zurückgekehrt, nachdem sie kurz nach der Wende nach Bayern gegangen war, und fuhr wieder fast täglich von Altjeßnitz zum Bitterfelder Krankenhaus, in dem sie arbeitete, nun allerdings mit dem eigenen Auto, was bei den schlechten Busverbindungen eindeutig bequemer war. Sie war wegen ihrer Eltern zurückgekommen, obwohl die sie nicht darum gebeten hatten. Ihre Eltern waren auch noch nicht gebrechlich oder pflegebedürftig, aber sie hatte bemerkt, dass ihnen alles schwerer fiel und sie ihre Hilfe brauchten. Sie wohnte also wieder in ihrem alten Zimmer und konnte sich eigentlich nicht beklagen. Nun ja, ihr Bruder wurde wie eh und je bevorzugt. Wenn er einmal mit dem Enkel zu Besuch kam, wurde er mit geradezu göttlichen Ehren empfangen, während all das, was sie für ihre Eltern tat, als selbstverständlich betrachtet wurde. Ansonsten gaben sich ihre Eltern alle Mühe. Sie waren alt, müde und auch ein wenig bequem geworden, aber sie ließen sich nicht gehen. Kam sie vom Dienst nach Hause, dann hatte Mutter meist das Essen gekocht, und wenn es im Haus etwas zu reparieren gab, machte sich Vater trotz seiner Bandscheibenprobleme tapfer ans Werk. Ihre Wehwehchen hatten sie natürlich in ihrem Alter, glücklicherweise nicht bedrohlich, aber lästig, so dass sie, wenn der Dienst zu Ende war und sie eigentlich genug von Krankheiten hatte, mit ihren Eltern als Patienten noch ein bisschen weiterarbeiten musste. Aber die konnten ja schließlich nichts dafür.

Das Problem war nur: Wer mit alten Leuten zusammenlebte, musste letztendlich wie alte Leute leben. Sie ertappte sich dabei, wie sie selbst nach einem Spaziergang von gerade einmal einem Kilometer – Mutters Füße(!) – mit einem „geschafft“ aufstöhnte, obwohl sie noch vor nicht einmal einem Jahr in Bayern und Tirol fast 3000 Meter hohe Berge bestiegen hatte.

Und natürlich nervten sie ihre Eltern, wenn sie ihr an ihren freien Tagen rieten, sich auszuruhen und zu erholen, obwohl sie unternehmenslustig war und voller Energie steckte. Aber dann brauchte sie sich nur eine halbe Stunde zu ihnen ins überheizte Wohnzimmer vor den Fernseher zu setzen, um sich so behaglich, wohlig und träge zu fühlen, dass es auch für sie eine Kraft- und Willensanstrengung bedeutete, ihren Hintern wieder hoch zu bekommen.

Nein, ihre Eltern machten ihr auch nicht in geringsten Andeutungen Vorhaltungen, wenn sie abends wegging. Aber was sollte sie unternehmen? Wer von den alten Freundinnen und Freunden war denn noch da?

An einem ihrer freien Tage scheuchte sie die Wintersonne vom behaglichen Sofa. Sie verließ das Haus und ging in Richtung Irrgarten, vor dem eine Limousine mit Hallenser Kennzeichen stand, die sie nicht wahrnahm. Sie betrat wie schon hunderte Male seit ihrer Kindheit den Irrgarten und gelangte mit traumwandlerischer Sicherheit direkt ans Ziel, wo auch er gerade ankommen war, nachdem er sich einige Male verlaufen hatte und schon etwas nervös geworden war. Und als sie sich sahen und freundlich grüßten, da durchströmte beide ein Gefühl des Glücks, als winke die Erlösung, aber gleichzeitig – vielleicht auch weil der Ring an seinem Finger in der Sonne blitzte – kam ihnen der Gedanke, dass nun alles nur noch schwerer würde.