Von Raina Bodyk

Ist es das Alter, dass ich in letzter Zeit immer öfter an meinen größten Erfolg, der zugleich mein größter Fehler war, denke? Ich träume nachts davon. War es ein unvorhersehbarer Unfall oder haben mich Eitelkeit und Ehrgeiz auf jenen fatalen Weg geführt?

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Damals war ich, William Crush, als Manager der Eisenbahngesellschaft Missouri-Kansas-Texas-Railroad, der sogenannten ‚Katy Line‘, zuständig für den Personenverkehr.
In den 1890er Jahren ersetzten wir unsere 30-Tonnen-Lokomotiven durch 60-Tonnen-Maschinen, die wesentlich leistungsfähiger waren. Einige der alten Loks konnten wir an Betreiber von Steinbrüchen und Ähnlichen verkaufen. Der Rest rostete vor sich hin. 

Es fuchste mich, dass diese Loks, die so lange treue Dienste geleistet hatten, einfach als Schrott enden sollten. Es begann in meinem Kopf zu gären. Ein Gedanke wollte sich ans Tageslicht drängen, aber ich kriegte ihn nicht zu fassen – bis meine Tochter mich nervte, mit ihr ein in der Nähe stattfindendes Volksfest zu besuchen. Während ich noch stöhnend überlegte, wie ich ihr beibringen konnte, dass sie bestimmt lieber mit ihrer Mutter gehen würde, machte es deutlich Klick bei mir. Ein Volksfest …

Ein Plan begann langsam Gestalt anzunehmen. Ich wirbelte meine überraschte Kleine durch die Luft und rief: „Schatz, du bist einfach die Beste!“

Als erstes musste ich die Bosse überzeugen: „Meine Herren, Sie und ich haben doch schon lange überlegt, wie wir die Konkurrenz, die in den letzten Jahren immer größer geworden ist, ausschalten können. Wir brauchen eine Werbung, die alle anderen aus dem Feld schlägt. Sonst müssen wir vielleicht irgendwann, wie immerhin ein Viertel der US-Bahngesellschaften nach der Wirtschaftskrise von 1893, Konkurs anmelden. Ich habe die Lösung für unser Problem! Lassen Sie uns eine gigantische PR- Veranstaltung mit unseren alten Dampfmaschinen machen und einen absichtlichen Zusammenstoß von zwei Eisenbahnzügen inszenieren! Wir wissen doch alle, mit welch morbider Faszination die Leute Artikel über große Katastrophen verschlingen. Die Zeitungen befriedigen mit ihren gruselig ausgeschmückten, bluttriefenden Artikeln das Interesse ihrer Leser. Und wir werden ihnen ein Unglück sozusagen zum Anfassen anbieten!“

„Na, ich weiß nicht. Ist das nicht viel zu teuer, aufwendig und gefährlich? Man wird uns für wahnsinnig erklären.“

„Ach was. Die Züge werden leer sein und das Publikum wird in sicherer Entfernung untergebracht.“ In Rekordzeit hatte ich sie auf meiner Seite Die Herren zeigten sich schnell begeistert von meinen Fantasieflügen und ließen mir freie Hand. 

Ich legte los. Ich wollte zwei der alten Lokomotiven absichtlich frontal und ungebremst aufeinander zu rasen lassen. Es sollte ein richtiges Spektakel werden mit allem Drum und Dran. 

Ein kleines Tal nördlich von Waco, Texas, war perfekt. Wir stampften mit 500 Arbeitern einen Ort für einen Tag aus dem Boden. Eisenbahnschienen wurden verlegt. Tribünen für Ehrengäste und die Presse, eine Polizeiwache samt Gefängnis wurden aufgebaut. Wir bohrten zwei Brunnen, ein Zirkuszelt wurde als Restaurant aufgestellt. Ein Bahnhof wurde hochgezogen mit einem 710 Yards langen Bahnsteig. 

Wir dachten an alles. Glaubten wir.

Riesige Schilder, bemalt mit dem Namen der neuen Stadt, Crush, Texas‘, wurden in die Erde geschlagen. Mein Name war perfekt für den Werbeslogan: ‚Crash at Crush‘. Witzig und einprägsam! 

Um für die außergewöhnliche Show zu werben, fuhren schon Monate vor dem Ereignis  die ‚Hauptdarsteller‘, die beiden Lokomotiven kreuz und quer durch Texas. Neugierige Volksmengen bestaunten die stählernen Giganten, die Nummer 999, grell grün gestrichen, und die knallrote 1001.

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Endlich, am 15. September 1896, war es so weit. 33 Sonderzüge waren eingesetzt, um die zu erwartende, riesige Menschenmenge heranzukarren. Es saßen sogar Passagiere auf den Dächern der Waggons, weil sie drinnen keinen Platz mehr fanden. Die Ersten erreichten den Ort bereits kurz nach Sonnenaufgang. Tausende kamen zu Fuß, mit der Kutsche oder zu Pferd. 

Es herrschte die heitere, aufgeregte Volksfeststimmung, die ich mir vorgestellt hatte. Stände mit allen möglichen Attraktionen – Schießbuden, Marktschreier, Würstchen- und Sauerkrautverkäufer, Spiele für Kinder – unterhielten die Zuschauer. Politiker hielten schlaue Reden über die eigenen Verdienste, Quacksalber verkauften wundersame Pillen und Tinkturen, Kapellen ließen ihre Pauken wummern und die Trompeten schmettern. 

Ich war ehrlich überrascht von der Anzahl der Zuschauer. Ich hatte mit etwa 20.000 Personen gerechnet, aber hier hatte sich mindestens die doppelte Menge versammelt. So gründlich hatte ich mich noch nie verschätzt! Meine Idee schien von unfasslichem Erfolg gekrönt zu sein! Da würde sich die Gesellschaft freuen, die für jedes Ticket zwei Dollar kassierte. Die Show selbst war für jedermann kostenlos.

„Hey, schaut mal, da kommen die Loks!“ Unter dem Jubel der Anwesenden wurden die Stahlkolosse für einen Fototermin über die Gleise zu dem Platz des künftigen Zusammenstoßes gezogen. Alles drängte hin, Kinder brachen auf den Schultern der Eltern in Hurrageschrei aus. Jeder wollte einmal die so berühmt gewordenen Loks ehrfurchtsvoll berühren, es vielleicht sogar auf ein Pressefoto schaffen. 

Danach wurden die Stahlriesen auf ihre geplanten Abfahrtsplätze gezogen und bei beiden wurden jeweils sechs Waggons, beklebt mit riesigen Werbeplakaten und beladen mit schweren Bahnschwellen, angekoppelt. Standen sich nun in einer Distanz von vier Meilen gegenüber. So manchem lief bei dem imposanten Anblick ein prickelnder Schauer über den Rücken.

Eine unglaubliche Anspannung lag in der Luft. Die Leute drängten immer weiter vor in den gesperrten Sicherheitsbereich. Wir mussten den Start eine geschlagene Stunde verschieben, bis man alle auf eine risikofreie Distanz von hundert Yards zurückgedrängt hatte.

Dann kam mein großer Auftritt. Ich gebe zu, ich habe ihn in vollen Zügen genossen! Weißes Pferd, weißer Anzug, so ritt ich an die Gleise heran. Zog den natürlich ebenfalls weißen Hut, streckte ihn quälend lange in die Höhe, bis die Menge vor Aufregung zu stöhnen begann. Da riss ich ihn mit einem harten Ruck nach unten. Ein Schrei der Erlösung.

Die Stahlmonster, Gladiatoren gleich, fuhren langsam an. Im Schlepptau jeweils ihre Güterwagen. Sie nahmen Fahrt auf, die Zugführer lösten die Bremsen, stellten auf höchste Geschwindigkeit und sprangen ab. Ein befreites Aufseufzen aus der Menge. Die Züge donnerten schneller und schneller über die Gleise. Über 50 Meilen pro Stunde. Ein irres Tohuwabohu: Das dumpfe Stampfen der Motoren. Das Fauchen der qualmenden Schlote. Markerschütterndes Kreischen der Lokpfeifen. Das Gebrüll und Gejohle von Abertausenden. Das Geböller von Feuerwerkskörpern, die die Arbeiter auf den Schienen verteilt hatten. Dazwischen das infernalische Trommelfeuer der Schlagzeuge. 

ENDLICH! Der Moment, auf den wir alle hingefiebert hatten. Eine winzige Sekunde herrschte atemlose Stille. Die Spannung war mit Händen zu greifen. 

Die gewaltigen Dampfrösser krachten kreischend und knirschend zusammen. Bohrten sich ineinander. Splitterwolken in der Luft. 


Doch dann wurde das Unmögliche Wirklichkeit. Die mächtigen, stählernen Heißwasserkessel beider Maschinen explodierten gleichzeitig. Tonnen von winzigen Metallteilen, ebenso wie von gewaltigen Stahlbrocken regneten auf die Menschen herab. Aus Begeisterungsgebrüll wurde schreckliches, traumatisches Schreien. Funken stoben, wo Stahl auf Stahl rieb. Holz zerbarst krachend. In wilder Panik versuchten die Leute zu fliehen. 

Einen Moment war ich völlig fassungslos. Ich begriff nicht. Die Proben waren gut gelaufen. Immer hatten sich die Lokomotiven beim Frontalzusammenstoß gegenseitig senkrecht hochgeschoben. Aber an diesem Tag verkeilten sie sich stattdessen mit enormer Wucht ineinander. Die Ingenieure hatten mir doch versichert, dass die wuchtigen Kessel auf keinen Fall explodieren könnten.
Sie hatten sich verrechnet.

Drei Menschen starben, Dutzende erlitten schwere Verletzungen. Die einen wegen der herumfliegenden, glühend heißen Trümmer, die anderen, weil sie kurz nach dem Aufprall bereits auf den Loks herumkletterten, um Andenken zu erhaschen. Ich habe Männer gesehen, die ihre Frauen durch den Matsch trugen und sie auf die Maschinen hoben.

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Einen Tag später war ich gefeuert . Aus meiner genialen PR-Aktion war eine Katastrophe geworden. Mit Recht fürchtete die Bahngesellschaft die kommende schlechte Presse. Der Ort ‚Crush‘, für ein paar Stunden die zweitgrößte Stadt in Texas, existierte nicht mehr. Sie wurde abgebaut, als sei nie etwas geschehen.

Dann geschah das kaum zu fassende Wunder, wenn man es denn als solches bezeichnen mag, für die Bahn. Wider jede Erwartung berichteten die Zeitungen voller Begeisterung von der grandiosen Show. Ganz Texas feierte das Zugunglück. Die Toten und Verletzten wurden zwar bedauernd erwähnt, jedoch überwog die positive Resonanz bei weitem. 

Ohne Schwierigkeiten zu machen, zahlte die Bahn hohe Schadensersatzbeträge an die Verletzten und Hinterbliebenen. 

Die Katy Line wurde berühmt. Sie erfreute sich fortan höchster Beliebtheit und brachte viel Geld ein. Ich meinerseits wurde einen Tag später wieder eingestellt. Auftrag erfüllt …

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Trotz der schrecklichen Katastrophe kopierten andere Bahngesellschaften meine Marketing-Idee und veranstalteten weitere, organisierte Zugkatastrophen. Gott sei Dank kam es nie wieder zu Toten und Verletzten. 

Ich selbst habe nie wieder ein solches Spektakel veranstaltet. Es war ein gigantischer Erfolg – aber mit welchen Folgen! Die Verherrlichung durch die Presse bereitet mir bis heute Übelkeit. Geschmacklos, wie sie sogar über die Vergänglichkeit alles irdischen Seins philosophierten.
Immer wieder stelle ich mir die Frage: Hätte ich diese Idee verwirklichen dürfen? Hätte ich um die Gefahr wissen müssen? War mir meine Karriere so wichtig, dass ich mich in meinem Ehrgeiz verrannt habe? Es war ein Unfall und doch … Mein Urteil wird dereinst ein Höherer sprechen.