Von Jochen Hirche

Heute Nachmittag zeigte sich ein fantastischer Regenbogen am Firmament. Er überzog das Graublau des Äthers in buntschillernden Farben. Im Wald hinter meiner Hütte nahm er seinen Anfang, schwang sich von dort himmelhoch, dann wieder abwärts bis zum Horizont und noch weiter, vielleicht sogar ins Paradies. Ins Paradies, da wo saftige Trauben an Rebstöcken hängen, Wein aus den Brunnen fließt und Nyaden an Bachufern die Menschenseelen mit ihrem Singsang verzaubern. Welch‘ Bilder sich in meinem Hirn ausmalten! Mich ergriff die Sehnsucht. Sollte ich es wagen, über diese hohe Brücke zu gehen, mitten hinein ins Himmelreich? Ich bin noch jung, will nicht für immer dortbleiben, nur einen kurzen Besuch abstatten und schauen, was mich am Ende meines Lebenslaufes erwartet. So Gott will, natürlich. 

Ich machte mich auf in den Wald, den Ort zu suchen, wo der Regenbogen die Erde berührt. Je weiter ich lief, desto unwegsamer wurde der Pfad. Wurzeln und Steine setzten meinen Fußgelenken zu. Den Weg ins Paradies hatte ich mir eigentlich frei von Beschwernissen vorgestellt, wie auf Wolken schwebend. Die Bäume warfen bald dunkle Schatten und verloren ihr Grün. Der Regenbogen schien wie vom Erdboden verschluckt, ebenso die Sonne. Dämmerung senkte sich hernieder.

Ich kam an eine Biegung und erkannte im fahlen Licht einen Wegweiser. Hoffnung ergriff mich, denn Schilder im Wald leiten zu Orten menschlichen Daseins, zu Plätzen, wo Essen und Trinken auf den Wanderer warten und ein Feuer im Herd brennt. Doch was las ich beim Näherkommen auf der Tafel über dem in meine Gehrichtung zeigenden Pfeil?  

„Zur Hölle – 666 Schritte“ stand auf dem verwitterten Holz geschrieben. Oha! Die Suche nach dem Paradies führte mich ausgerechnet in die Unterwelt. Wie schnell man doch vom rechten Weg abkommen kann! Nun war guter Rat teuer, denn ich stand vor einer richtungsweisenden Entscheidung. Gebe ich Fersengeld und renne hasenfüßig nach Hause, bleibt meine Suche nach dem Paradies ergebnislos. Gehe ich weiter, bleibt sie es auch, denn was mich im Verlauf des Weges erwarten würde, schien festzustehen. Folge ich der Vernunft oder schüre ich die Glut meiner Abenteuerlust? Wenn ich schon einmal hier war, könnte ich doch nach dem Ort schauen, wo ich als Toter garantiert nicht leben möchte.

Gedacht, getan. Der Weg führte nun steil bergab über Stock und Stein. Mit jedem Schritt wurde es merklich wärmer, bis ich an ein geschlossenes, rotglühendes Eisentor kam – die Höllenpforte. Eine Klinke ragte hervor, ein Asbesthandschuh lag bereit, doch fand ich keine Glocke, um mein Kommen höflich anzukündigen. Es ist nicht meine Art, unverhofft in Gesellschaften hineinzuplatzen, als ungebetener Gast zum Abendmahl zu erscheinen. Ein leichtes Unbehagen breitete sich in meiner Magengegend aus. Ich beschloss abzuwarten.

Es dauerte nicht lange, da hörte ich Geräusche. Ich blickte zurück und sah Gestalten den Weg herabkommen. Sie wirkten wie Gespenster, doch es waren Menschen. Es waren Menschen. Ich erkannte Bankiers, Politiker und Wirtschaftsbosse, die es sehr eilig hatten. Sie kamen aus ihrer kalten Welt und suchten, verlangten geradezu nach einem wärmenden Ort. Sie hingen wie Pech und Schwefel zusammen, so wie sie es schon zu Lebzeiten zu tun pflegten. Wir grüßten einander und man lud mich auf eine Feuerzangenbowle ein, was ich dankend ausschlug, denn ich war ja nur zu Besuch hier. 

Voller Zuversicht und den Handschuh gepackt, öffnete der erste die Tür und alle stiegen blindlings hinein und hinab in den Schlund. Einer nach dem anderen lief an mir vorbei: Ein General, ein Bischof, ein Staubsaugervertreter, ein Metzger, Dicke und Dünne, Große wie Kleine, Glatzköpfige und Langhaarige, also Menschen wie du und, o Gott, auch wie ich. Mit etwas Abstand zum Ende der Kolonne kam er, der Beelzebub, auf seinem Pferdefuß hinkend, die Vorlegegabel geschultert und einen gut zweieinhalb Meter langen Pürierstab hinter sich herziehend. Zum Glück hatte er mich noch nicht bemerkt. Angstvoll versteckte ich mich hinter einer Tanne, doch das wäre nicht nötig gewesen. Der Teufel ging ganz in Gedanken, die Augen starr auf den Boden gerichtet, und brabbelte etwas von Pfaffenschnittchen, Kohlroulade und Bauernfrühstück. Er war so sehr mit der Zusammenstellung seines Speiseplans beschäftigt, dass er gar vergaß, die Höllentür hinter sich zu schließen. Und so quoll es alsbald von drunten heraus: Das Feuer, der Qualm, der Geruch von Schmorbraten und der Gesang der auf ewig verlorenen Seelen:

„Ach in der Hölle ist’s heiß, so furchtbar heiß!
Beständig rinnt uns der Schweiß, endlos der Schweiß.
Hier unten gibt es kein Bier, kein Bier nach Vier!
Du, Teufel, hab‘ Erbarmen, lass‘ uns fort von hier.“  **

Das Klagelied klang so schauerlich, dass mir trotz der Hitze das Blut in den Adern gefror. Ich suchte verstört das Weite und stehe nun wieder am Wegweiser. Jetzt brauche ich auch ein Bier, und einen Mordshunger habe ich obendrein. Ich möchte nicht in die Hölle und für heute auch nicht mehr ins Paradies, sondern nur noch in den Krug. 

Liebe Frau Wirtin, zapfe sie schon mal ein Kellerkühles und brate sie das Feuerfleisch an, aber so richtig mit Pfeffer, Chili und Zwiebeln! Ich komme sogleich! 

 

** auf die Melodie von „Es gibt kein Bier auf Hawaii“ zu singen

 

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