Von Ina Rieder

Auf meinem Spitzboden steht eine Kiste mit ihrem Namen darauf. Ich habe sie gleich neben der Luke platziert, damit sie jederzeit griffbereit ist. Letzten Sommer habe ich ihre persönlichen Gegenstände dort hineingepackt. Zwischen all dem Krimskrams liegt auch noch ein Funke Hoffnung.

„Es tut mir leid!“, würde ich gerne zu ihr sagen. „Du bist ein wundervoller Mensch! Ich liebe dich!“

***

Ich sitze in meinem schiefen Hexenhäuschen. Von Efeu umrankt, von Rosen umrahmt. Rundherum ist alles grün, von Feldern und Wiesen umgeben. Hügelig, ein bisschen Wald. Nicht kalt fühlt es sich an, sondern warm, wie Wasser von der Sonne erhitzt. In der Nähe fließt ein Bach, Vögel zwitschern vom Dach. Mein Tisch ist rund und gerade so groß, dass ich mich nicht einsam fühlen kann. Denn ich bin allein. Die Fenster haben Sprossen, lassen Licht ins Innere. Wenn ich nach draußen sehe, verschmelze ich mit meiner Umgebung und bitte um Vergebung. Darum, dass ich es nicht besser hinbekommen habe, das mit mir und dem Leben. Ein stetiges Beben und Streben nach Liebe. Die Stimmungen Anderer schwappen zu mir über, bringen meinen Körper zum Schwingen, meine Seele zum Singen. Worte dringen an mein Ohr, verbohren sich, beschäftigen meinen Verstand, rütteln an meinen Gefühlen. Doch irgendwie drehe ich mich immer um mich selbst, habe meinen Platz noch nicht gefunden. Unumwunden – nicht gefunden. 

Mein Blick schweift durch den Raum, bleibt an der runden Wanduhr haften. Bald fünfzehn Uhr. Plötzlich sehe ich sie in der Küche hantieren. Sie dreht sich zu mir um, lächelt mich an, als hätte sie nie etwas anderes getan.

„Magst du auch ein Stück Kuchen und Tee?“

Ich nicke nur, stehe auf, bringe Teller, Gabeln und Tassen. Der Duft frischen Marmorkuchens zieht durch den Raum. Sie schneidet den Kuchen in dicke Stücke, setzt sich neben mich, an meinen runden Tisch. Meine Gabel klappert auf den Tellerrand und ich spüre ihre warme Hand. 

„Ich … Es …“, stottere ich vor mich hin.

„Pst!“, sagt sie. „Nicht jetzt. Sei still!“

Wir schweigen zusammen und essen. Die Erinnerung an unseren letzten Moment werde ich nie vergessen.

***

Es war im Sommer. Die Sonne senkte sich, die Grillen zirpten und es lag dieser Duft von frischem Heu in der Luft. Wir saßen draußen am Teich. Unsere Füße vom Wasser geküsst, die Köpfe erhitzt. 

„Ich muss dir was sagen“, begann ich. 

Sie schaute mich an. Ich spürte Enge in meiner Kehle, ein Stich in meiner Seele.  

„Als ich das letzte Mal in der Stadt …“, begann ich und stockte. 

Die Zeit stand für eine Weile still. Sekunden dehnten sich kaugummimäßig, zäh und bräsig. Ich zählte die Rosen im Wasser. Eins, zwei, drei vier. Mein Blick wanderte wieder zu ihr. 

„Was ist passiert, als du das letzte Mal in der Stadt warst?“ 

Sie zog ihre Füße aus dem kühlen Nass und rieb sie mit einem Handtuch trocken. Dann schlüpfte sie in ihre Socken und lächelte mich auf eine Weise an, die Eis zum Schmelzen bringen kann. In meinem Bauch ziepte es, als hätte jemand meine Gedärme durcheinandergerührt. So habe ich es verspürt und meine Gedanken kreisten immer um diese eine Sache. Warum bin ich nicht einfach gegangen? Was hat mich so gefangen?

„Also …“, zögerte ich. 

„Na, sag schon!“, drängte sie mich.

„Ich hatte noch etwas Zeit, bis zu meinem nächsten Termin, lief ziellos durch die Stadt. Plötzlich stand ich vor ihrem Haus …“

„Vor welchem?“ 

Ich blickte zu Boden. Meine Hände zitterten, die Stimme bebte.

„Runas“, flüsterte ich und hatte das Gefühl, eine geplatzte Kaugummiblase würde meine Lippen verkleben. Der reine Klang ihres Namens brachte mein Gegenüber zum Beben. 

„Es war reiner Zufall. Ich wollte das nicht. Ehrlich. Es tut mir leid“, murmelte ich.

„Schau mich gefälligst an!“ 

Ihre Stimme klang alles andere als freundlich. Mir wurde bang, ich hob meinen Kopf. Ihre Augen schienen größer, ihr Herz kleiner – alles Dank meiner. 

„Ich glaube eher, deine sehnsüchtigen Gedanken haben deine Beine vor Runas Haus gelenkt und du hast ihr dein charmantes Lachen geschenkt!“

Eine fette Falte bildete sich vertikal zwischen ihren Augenbrauen.

„Ich wollte mich nur mit ihr aussprechen. Doch es war wieder diese Magie zwischen uns.“

„Verschon mich, ja!“ 

„Lass mich ausreden. Ich habe meine Nachmittagstermine abgesagt. Wir haben zusammengesessen, die Zeit vergessen…“

„Was?“ Sie sah mich entgeistert an. „Wenn ich dich einmal darum gebeten habe, auch nur einen deiner Termine zu verschieben, war es schon zu viel!“, rief sie aus, sprang auf, schaute mit verschränkten Armen auf mich herab.

„Es tut mir leid. Nachdem wir …, hat sie mich mit einem triumphierenden Lächeln auf den Lippen aus ihrem Haus gejagt.“ Ich wuchtete mich hoch. Meine Freundin schnappte stumm nach ihrem Handtuch. 

„Soll ich jetzt Mitleid mit dir haben?“

„Bitte höre mir zu! Ich wollte das nicht! Ich habe mich in Runa getäuscht. Jede Magie hat sich mittlerweile im Nichts aufgelöst.“

„Geh bitte“, bat sie mich mit einer Energie, die keine Widerrede zuließ. „Ich schlafe diese Nacht hier“, sagte sie und ich sah sie nur noch von hinten, in unserem Gartenhaus verschwinden. 

***

Und jetzt, Jahre später, sitzt sie plötzlich wieder hier, neben mir, an meinem runden Tisch.

„Ich liebe Dich und vergebe dir“, sagt sie, als gäbe es daran nichts zu rütteln. Doch ich kann meine Schuldgefühle nicht abschütteln. Ihre warmen Worte dringen wie durch Watte zu mir durch. „Komm schon“, fordert sie mich auf, steht auf und breitet ihre Arme aus. Alles in mir sträubt sich, wehrt sich und verzehrt sich. Dann gebe ich nach und lasse mich umhüllen, diese latente Leere durch Liebe in mir füllen.

„Ich liebe dich auch. Du bist wundervoll.“ 

Dann ist sie weg. Flüchtig wie ein Sprühnebel im Morgenglanz. Und da ist sie wieder diese Distanz, zwischen mir und dem Leben. 

Ich steige noch einmal hoch, zu meinem Spitzboden, öffne diese Kiste mit ihrem Namen drauf. Staubwölkchen wirbeln durch die stickige Luft. Ihr Sterbebildchen wandert in meine Hand, mein Zeigefinger streift zärtlich über den Rand. 

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