Von Peter Burkhard

 

Puerto Limón, Costa Rica
10. Juni 2008

Es ist fünf vor zehn und ich stehe vor dem schmucklosen Polizeigebäude an der Avenida José María Castro.
Mit flauem Gefühl im Magen betrete ich die Eingangshalle und gehe zum Empfang.
„Señora Espinoza erwartet Sie bereits, 1. Etage, ganz hinten.“

 

Die Kripochefin bedankt sich für mein Kommen und führt mich ohne Umschweife in eine Art Verhörraum. Mit einem knappen „Porfa, Señor“ fordert sie mich auf, am Tisch Platz zu nehmen, auf dem ein Diktiergerät liegt. Gleichzeitig betritt ein Uniformierter mittleren Alters den Raum und schließt die Tür hinter sich.
Ich setze mich nur zögerlich. „Diese Räumlichkeit und der Aufmarsch hier irritieren mich. Wird das ein Verhör?“ 
„Keine Sorge Señor, Vorschrift. Mein Kollege, Inspector Palacios, wird die Befragung mitverfolgen und Ihre Aussagen auf diesem Ding hier aufzeichnen, das ist alles.“ Sie tippt auf das Aufnahmegerät.
„Gut, aber ich will klarstellen, dass ich das Opfer bin und mich freiwillig auf der Polizeistation von Cahuita gemeldet habe. Vergessen Sie das nicht.“ Die schwüle, drückende Luft im Raum treibt mir den Schweiß auf die Stirn und verstärkt mein Unbehagen.
Señora Espinoza lächelt, stellt mir kommentarlos eine Flasche Mineralwasser und ein Glas hin und öffnet ihre Dokumentenmappe.
Nachdem sie meine Personalien überprüft sowie den Grund für die Vorladung und den Zweck des Gesprächs nochmals erläutert hat, legt sie mir eine Fotografie vor. „Erkennen Sie diesen Mann?“
„Ob ich den kenne? Machen Sie Witze?“
„Bitte Señor, beantworten Sie einfach meine Fragen. Sind Sie ihm schon einmal begegnet?“
„Ja natürlich, das ist der Halunke, wegen dem ich hier sitze. Haben Sie den Dreckskerl gefunden, ist er tot?“ Ich nehme einen Schluck Wasser. Unversehens beginnt der Ventilator über uns zu rattern und bringt Bewegung in die stickige Luft.
„Er hat überlebt, wenn auch nur knapp.“
„Schade. Ich hatte gehofft, dass er krepieren würde. Wo hat man ihn gefunden?“
„Er wurde völlig entkräftet auf der panamaischen Seite der Sixaloa Grenzbrücke aufgegriffen. Scheinbar hatte er es zuvor aus eigener Kraft bis zur Hauptstraße geschafft und konnte per Autostopp das Land verlassen. In der Poliklinik von Guabito hat man ihm zwar das Leben gerettet, aber ohne Schäden wird er kaum davonkommen.“
„Mir kommt die Galle hoch, wenn ich nur dran denke.“
„Sie haben jedenfalls Glück gehabt. Fast wären Sie sein drittes Opfer geworden, zwei andere haben das Zusammentreffen mit ihm nicht überlebt. Er wurde seit Monaten von Interpol wegen räuberischer Erpressung und Mord gesucht.“
„Was glauben Sie, wollte der Kerl von mir?“
„Vermutlich plante er eine Entführung und Erpressung eines Lösegelds.“ Señora Espinoza hebt die Augenbrauen. „Solche Fälle häufen sich in unserer Provinz in letzter Zeit. Worauf er es bei Ihnen abgesehen hatte, wissen wir noch nicht.
Um mir ein genaues Bild des Vorfalls machen zu können, benötige ich jetzt Ihre präzise Schilderung der Geschehnisse, von Anfang an.
Erzählen Sie alles in Ruhe und lassen Sie kein Detail aus.“

 

„Es war an meinem zweiten Nachmittag in Cahuita: Ein junger Mann sprach mich auf der Straße an. Er nannte sich Jamali. Am Abend desselben Tages begegneten wir uns ein zweites Mal und er überredete mich zu einem Bier. Dabei verabredeten wir uns für den nächsten Morgen zu einem Dschungelausflug.“
„Hmm, ziemlich leichtsinnig. Und was geschah am folgenden Tag?“
„Wir hatten uns auf halb sieben am Eingang des Parks verabredet und ich war pünktlich, doch von Jamali keine Spur.
Ich wartete über eine Stunde und dachte schon an eine Rückkehr ins Dorf.
Erst kurz vor acht Uhr kam mir ein Kerl entgegen, aber es war nicht Jamali.
Er streckte mir die Hand hin und stellte sich auf Patwah als Tony vor.
Als er meinen verblüfften Blick sah, switchte er auf Englisch und meinte: ‚Ich werde dich begleiten, Jamali gehts gar nicht gut, okay?‘
Ich musterte den Typen: Er war um die dreißig, sportliche Erscheinung, Rucksack am Rücken. Na gut, dachte ich, wenigstens kein Gangsta.
Als ich ihn fragte, ob er sich auskenne, meinte er: ‚Bestens, keine Sorge.‘
Danach stapfte er los Richtung Park und ich hinterher.
Wir marschierten strammen Schrittes auf dem gleichen Weg, den ich am Tag zuvor gegangen war. Nach einigen Minuten verkrampften Nebeneinandergehens begannen wir miteinander zu reden, über Costa Rica, über den Dschungel, über Gott und die Welt. Zwischendurch zeigte mir Tony Kleinigkeiten am Rande des Weges: Blumen, Blätter, Kleingetier. Er hatte ein gutes Auge und wartete geduldig, wenn ich die Objekte fotografierte. Weil wir um diese frühe Zeit allein unterwegs waren, hatten wir die ganze Idylle für uns.
Unvermittelt zog mich Tony am Arm und deutete auf einen schmalen Pfad, der rechter Hand in den Dschungel führte. ‚Hier gehts hinein‘, brummelte er und ging voraus.
Er riet mir, auf Wurzeln und vor allem auf Schlangen zu achten, die Viecher wären leicht zu übersehen.
Die Pflanzenwelt des Urwaldes zog mich vollends in ihren Bann. Es war unglaublich, das einzige, was fehlte, waren die größeren Tiere. Einmal keckerte ein Eichhörnchen lauthals, als es sich durch uns gestört fühlte, sonst war nichts.
Wir drangen immer tiefer in den Wald vor und waren weit weg vom Trampelpfad der Touristen, als mich mein Begleiter passieren ließ. Er bemerkte bloß: ‚Geh voran, es ist besser, wenn du das Tempo vorgibst!‘
Plötzlich, ein Riesengebrüll hoch oben in den Kronen der Bäume. Ich erschrak, blieb stehen und starrte in die Höhe.
Tony lachte hinter mir. ‚Hey Mann, hörst du das? Das sind Brüllaffen, direkt über uns.‘
Als ich mich umdrehte und ihn fragen wollte, ob … da knallte es. Erst wurde es dunkel vor meinen Augen, dann schwarz.

Als ich wieder zu mir kam, lärmten die Affen über uns noch immer. Ich konnte mich nicht bewegen, denn ich saß mit dem Rücken an einem Baumstamm, die Hände hinter dem Stamm gefesselt. Auch meine Füße waren zusammengeschnürt und die Fußknöchel schmerzten. Über dem linken Auge verspürte ich ein starkes Brennen, mein Schädel dröhnte und Blut rann mir über das Gesicht.
Mir war sofort klar: Dieser verfluchte Bastard hatte mich niedergeschlagen. Meine Gedanken spielten verrückt und ich bekam es mit der Angst zu tun.
Als ich ihn entdeckte, stand der Drecksack einige Meter abseits und urinierte unbekümmert an einen Baum. Er hörte mein Stöhnen, drehte den Kopf und verhöhnte mich: ‚Ih nuh luk gud fah yuh!‘, oder so ähnlich.
Nachdem er fertig gepisst hatte, kehrte er zu mir zurück und wollte sich über meinen Rucksack hermachen. Dabei entdeckte er unter einem Strauch eine Schlange.
Er fluchte und trat heftig auf den Boden, worauf das Reptil die Flucht ergriff. Doch ihm ging das zu langsam. Er bückte sich, packte einen dicken Ast und schlug hinter dem Viech auf die Erde. Dabei musste er es mit einem Zweig oder den Blättern erwischt haben. Die Schlange wendete abrupt, richtete sich auf und schlug blitzartig zu. Sie erwischte ihn an der rechten Hand, glitt zurück ins Buschwerk und verschwand.
Tony griff sich an die Bissstelle und schrie auf. Blut lief aus der Bisswunde, sie schien ihn bestialisch zu schmerzen. Fassungslos betrachtete er seinen Handrücken, bevor ihm die Knie versagten und er kreidebleich zu Boden sank.
„Bothrops asper.“ Señora Espinoza nickt unmerklich und ergänzt: „Eine Terciopelo-Lanzenotter, äußerst aggressiv und sehr giftig. Bitte, fahren Sie fort.“
Tony schnauzte mich an, dass ich ihm helfen sollte. Aber ich war gefesselt und konnte mich kaum bewegen. Und selbst wenn ich es gekonnt hätte, lieber wollte ich den Bastard krepieren lassen.
Die Haut von Hand und Unterarm rötete sich schnell und heftig und die Finger schwollen sichtbar an. Beim Anblick der stark blutenden Wunde und des zu Boden tropfenden Blutes bekam es Tony richtig mit der Angst zu tun. Er zerrte sich das Hemd vom Körper und versuchte unter Schmerzen einen Streifen abzureißen, um den Arm abzubinden. Vergeblich.“
Die Kommissarin wendet sich ihrem Kollegen zu. „Alex, öffne bitte die Tür und stelle den Ventilator ab, dieser Lärm ist ja unerträglich.
Perdón Señor. Und wie gelang es Ihnen schließlich, dem Kerl zu entkommen?“
Tony flehte mich an: „Hilf mir, ich lass dich frei, hilf mir!“ Es gelang ihm, sich aufzurappeln und mich mit großer Mühe von meinen Handfesseln zu befreien. Als er sich erneut schmerzgepeinigt über seine gebissene Hand krümmte, ergriff ich meine Chance.
Ich riss die Fesseln von meinen Füßen los, packte meinen Rucksack und lief weg. Er schrie verzweifelt hinter mir her, aber das war mir egal. Ich lief, stolperte auf dem schmalen Weg, fiel mehrmals hin und rannte, rannte um mein Leben.
Völlig außer Atem, durchnässt von Schweiß und feuchtwarmer Luft gelangte ich an einen Punkt, wo sich der Pfad dreiteilte. In diesem Moment wurde mir bewusst, dass ich mich bei meiner kopflosen Flucht komplett verlaufen hatte. Ich wusste nicht wohin. Rund um mich herum nichts als Grün und über mir gleißendes Sonnenlicht, welches sich den Weg durchs Blätterdach bahnte. Ich ließ mich erschöpft auf einer Brettwurzel nieder und begann mit mir zu sprechen. Das tue ich immer, wenn ich verzweifelt bin
„Schließlich sind Sie aber doch zurück ins Dorf gelangt.“ Die Kommissarin legt fragend die Stirn in Falten.
„Ja, dank meines Handys.“
„Was wollen Sie damit sagen?“
„Dass mein Handy geklingelt hat und mir erst dabei bewusst wurde, dass ich es bei mir hatte. Ich konnte es kaum glauben, aber es war so: Jamali war dran.“
„Bleiben Sie bei der Wahrheit, Señor. Mir ist es nicht ums Scherzen.“
Während Señora Espinoza ihren Ton verschärft, verzieht Alex nur missbilligend sein Gesicht.
„Ich lüge nicht. Er hatte in meiner Unterkunft die Handynummer erfragt, indem er eine Notsituation vorgab. Dabei wollte er sich bloß nach meinem Befinden erkundigen. Die Polizei konnte mich schließlich orten und jetzt bin ich hier. Dieser Jamali hat mir das Leben gerettet, Frau Kommissarin und ich will nur eines: Bringen Sie den andern Kerl hinter Gitter, rapido y por siempre!“

 

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