Von Ingo Pietsch

Ich war mit meiner Frau Fjona erst vor kurzem nach Gehlenbeck gezogen.

Wir wohnten unterhalb der B 65 in einem kleinen Bauernhaus und hatten es uns zur Gewohnheit gemacht, einmal im Monat in den Wald zu fahren und dort spazieren zu gehen.

Es waren nur ein paar Minuten mit dem Auto bis zum Parkplatz, der sich schon halb im Wald befand.

Schweineplatz hieß der Parkplatz, von dem aus mehrere Routen über das Wiehengebirge verliefen.

Früher hatte man hier die Schweine hochgetrieben, die sich dann an Eicheln, Bucheckern und anderen Baumfrüchten satt fressen konnten.

Wir nahmen diesmal den kürzesten Wanderweg, da es schon später Nachmittag war.

Wir blickten noch einmal auf die große Schautafel, die an dem Platz stand.

Es ging einmal nach rechts und dann mussten wir uns eigentlich nur links halten, um an unseren Ausgangspunkt zurückzukehren.

Ich nahm Fjona bei der Hand und wir gingen eine leichte Steigung nach oben und vorbei an einem geschlossenen Schlagbaum.

Wir erschraken.

Borkenkäfer, der trockene Sommer und ein Herbststurm hatten ihre Spuren hinterlassen. Wir erkannten unsere Wanderroute kaum wieder. Wo ehemals tunnelartige Wege durch das Wiehengebirge führten, war jetzt alles kahl. Links und rechts des Weges standen nur noch Baumstümpfe, gesplitterte Stämme und Büsche

Die Forstwirte hatten schon einen großen Teil der gefallenen Bäume entastet und zum Abtransport zu großen Haufen gestapelt.

Vereinzelt standen nur ein paar Dünne Fichten dort, die leicht im Wind hin und her schwangen.

Wir gingen eine Steigung hinauf, die ehemals dunkler Wald gewesen war. Jetzt war es eine Lichtung.

„Ganz schön schlimm!“, meinte Fjona.

„Ja“, bestätigte ich. „Ich habe gar nicht gemerkt, dass der Sturm so gewütet hatte. Wahrscheinlich waren die Bäume schon geschwächt oder der Boden schlecht gewesen.“

Wir stiegen weiter hinauf. 

Regen hatte den Weg ausgespült und den Schotter freigelegt, mit dem der Boden befestigt worden war. Wir mussten aufpassen, dass wir trotz unserer festen Wanderschuhe bei dem groben Untergrund nicht umknickten.

Oben auf dem Kamm angekommen, hatten wir einen atemberaubenden Blick auf Gehlenbeck und den östliche Teil von Lübbecke, den es sonst nicht gegeben hätte.

Aber um welchen Preis?

Der Sturm hatte scheinbar nur den Hang erwischt, denn hier oben endete die Baumgrenze wieder.

Die Sonnenstrahlen fielen in Lichtstreifen durch den Mischwald.

Staub und Blätter schwebten von oben herab.

Der Boden war auch wieder weicher und das Gehen fiel uns leichter.

Ich zog Fjona weiter und wir gingen bis zu einer Weggabelung.

„Ich habe die Abzweigung erst viel später in Erinnerung“, sagte sie.

Ich war mir nicht sicher. 

„Wir gehen einfach weiter und halten uns links, dann kommen wir automatisch zum Parkplatz zurück.“ 

„Ok, so weit ist es ja auch wieder nicht.“

Es ging noch höher.“

„Da vorne ist eine kleine Lichtung. Ich sehe schon eine Bank. Da machen wir eine Pause.“ 

Fjona zeigte nach vorne, da ich mich ständig nach allen Seiten umsah, aber nichts wieder erkannte.

Mir schmerzten die Waden vom ständigen Aufwärts-Laufen.

Wir setzten uns auf die besagte Bank, die von einem örtlichen Optiker gespendet worden war.

„Brillen Achterberg“, las ich, „den kenne ich!“

„Ja“, Fjona tippte an ihr Brillengestell. Nach einer Weile fuhr sie fort: „Erinnerst du dich, als wir hier zum ersten Mal wandern waren?“

Ich grinste: „Da gab es einen fürchterlichen Schauer und wir waren bis auf die Haut nass.“

Wir dachten gerne an den Abend, an dem wir uns fröstelnd und eng umschlungen gegenseitig im Bett gewärmt hatten.

Ein Specht klopfte in der Ferne.

Wir genossen die letzten warmen Sonnenstrahlen.

„Wollen wir weiter?“, fragte ich nach einer Weile, kurz vor dem Eindösen.

Fjona beugte sich zu mir hinüber und gab mir einen innigen Kuss.

Etwas streifte meine Beine und ich zog sie erschrocken zurück, als ein Eichhörnchen unter der Bank entlang lief und auf einer Buche vor uns immer wieder um den Stamm herumkletterte, bis es in der Krone verschwunden war.

Mit einem Mal war es unnatürlich still geworden. Nur ein paar Mücken umschwärmten uns summend.

Ein Grunzen ertönte hinter uns.

Gleichzeitig blickten wir in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war.

In etwa zehn Metern Entfernung wackelten die Büsche und ich erkannte braunes Fell.

„Sicher nur ein Wildschwein“, beruhigte ich Fjona.

„Hoffentlich keine Bache mit ihren Frischlingen. Dann haben wir nichts zu lachen.“ Fjona war aufgestanden.

„Oder ein Wolf?“ Was sehr unwahrscheinlich war. Angeblich hatte man im fünfzig Kilometer entfernten Herford mal einen gesehen.

„Ein Wolf? Der hat sicher mehr Angst vor uns als wir vor ihm.“ Fjona lachte, mit einem unsicheren Unterton.

Die Bewegungen hatten aufgehört.

„Wir gehen lieber den gleichen Weg zurück. Lass uns kein Risiko eingehen. So eine wilde Bache kann ziemlich unangenehm werden oder wir verlaufen uns noch.“

Ich nickte und wir machten ein paar Dehnübungen.

Zügig hatten wir die Weggabelung erreicht, als wir ein Brüllen hörten, das aus der Richtung der Bank kam. Ein eher verhaltenes, aber eines, dass einem die Nackenhaare zu Berge stehen ließ.

Wir rannten jetzt.

„Das war kein Wolf!“ hechelte ich.

„Was du nicht sagst! Und ein Wildschwein auch nicht!“, bemerkte Fjona bissig.

Ich sah zu, dass Fjona vor mir blieb und blickte immer wieder zurück – aber keine Spur von unserem Verfolger.

Dann kam der Hang.

Fjona stolperte über den Schotter und stürzte auf die Knie.

„Oh, mein Knöchel“, stöhnte sie.

Ich half ihr auf und hakte mich bei ihr unter.

Wieder ein Grunzen, das über den Hang hallte.

Dann sah ich das Tier. Ein Bär! Er zog sich mit seinen Vordertatzen an einer Linde hoch und präsentierte sich in seiner vollen Größe.

„Los, los, los!“, der Versuch ruhig zu bleiben schlug völlig fehl.

Fjona sah mich mit weit aufgerissen Augen an: „Was ist denn da?“

Erst beim Schlagbaum fand ich meine Stimme wieder. „Ein Bär!“

„Du willst mich auf den Arm nehmen!?“

„Wenn wir dann schneller wären, würde ich das machen. Aber ich scherze nicht.“

Wir erreichten den Parkplatz und ich fummelte umständlich in meiner Hose herum, bis die Zentralverriegelung unseres Autos klickte.

Der Bär war nirgends auszumachen.

Nachdem ich Fjona ins Auto verfrachtet hatte, schlug ich leise ihre Tür zu. Fjona hatte seit dem Schlagbaum nichts mehr gesagt.

Ich lief zur Fahrerseite, als der Bär aus dem Unterholz trottete.

Ganz gemächlich und auf allen Vieren kam er auf mich zu.

Ich blickte ihn die ganze Zeit an, während ich einstieg.

Er machte keinen mordlustigen Eindruck auf mich. Also keine Bestie, die jeden Moment etwas zerreißen wollte. Eher wie ein Tier, dass nur Futter suchte.

Der Gedanke beruhigte mich keineswegs, wenn ich das Futter war.

Plötzlich beschleunigte der Bär und wurde erst wieder langsamer, als ich meine Tür geschlossen hatte.

Kurzatmig und starr vor Angst, pressten wir uns in unsere Sitze.

Der Bär blickte in mein Fenster und die Scheibe beschlug.

Ich hielt die Luft an und Fjona schluchzte.

Sie ergriff meine Hand und es fühlte sich an, als bräche sie sie mir.

Der Bär setzte seine Vorderpfoten auf die Motorhaube, dass die Stoßdämpfer ächzten.

Dann brüllte er ein letztes Mal und ließ unseren Wagen in Ruhe.

Langsam verschwand er vor unseren Augen im Unterholz.

Ich startete das Auto und setzte so leise wie möglich zurück.

Dann beschleunigte ich so schnell, dass die Reifen Steine, Äste und Dreck verschleuderten und raste aus dem Wald.

 

Als wir die Hauptstraße erreicht hatten, rief ich sofort die Polizei an.

Ich dachte erst, sie würden mich für einen Spinner halten, aber dem war nicht so.

Selbst im Radio wurde durchgegeben, dass man besser zuhause bleiben sollte.

In der vergangen Nacht war ein Bär aus dem Zoo Osnabrück entkommen. Durch einen Stromausfall war es ihm gelungen, die Sicherheitszäune zu überwinden.

Möglicherweise hatte sich das Tier an einer Autobahnraststätte in einem LKW versteckt und war dann irgendwie ins Wiehengebirge gelangt.

Wir gehen ab sofort nur noch im Moor wandern. Was soll da groß passieren?!

 

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