Von Bernd Kleber
Wenn uns etwas gegen den Strich geht, ist es für Widerstand nicht zu spät.
Sprichwort
„Unteroffizier Weber, Sie übernehmen dieses Jahr einen Zug der Grundausbildung!“, polterte mich der Major an. Ich stand immer noch still. Normalerweise hätte ich jetzt die Augen rollen, die rechte Hand gegen den Schenkel schlagen sollen und wie ein bockiges Kind: „Ach nö, ick will das nich, wat soll denn der Scheiß?“, fragen müssen. Ich rührte mich nicht. Nie wollte ich als Zugführer so eine blöde A-Kompanie*1 mitmachen und diese jungen Menschen formen. Ich war dazu gar nicht fähig. Wir Geschwister wuchsen in einem Elternhaus auf, in dem keine Spielzeugwaffe, kein Plastikpanzer und keine Cowboy- und Indianer-Püppchen erlaubt waren. „Was wollt ihr damit, spielen, wie Menschen andere Menschen abschlachten?“
Ich war Sanitäter, Krankenpfleger, sorgte für Trost und Heilung. Nur wegen des Studiums hatte ich mich zu drei Jahren Armee verpflichtet, eineinhalb Jahre mehr als notwendig. Das war ein ungenannter Zwang zugunsten eines Studienplatzes in der DDR. Da ich Medizin studieren wollte, hatte man mich gnädiger Weise in den Sanitätsdienst gesteckt, in einen Med.-Punkt*2 der Luftverteidigung an der Ostsee. Ich war allein in meinem Minikrankenhaus. Machte Bestellungen von Arznei- und Verbandstoffen, desinfizierte und reinigte alles. Ich betreute die wöchentlichen Arztsprechstunden, zu denen ein Vertragsarzt aus dem kleinen Ort in die Einheit kam. Und ich begleitete einmal im Monat Soldaten zum Zahnarzt, bei dem ich zahntechnische Assistenz leistete. Ich lernte unheimlich viel.
Wenn die meisten zu einem Manöver Kalaschnikows*3 aus der Waffenkammer holten, trug ich eine kleine Makarow*4-Pistole. Ich fuhr den Sankra*5, einen LO-Bus*6, als letztes Auto des Trosses. Alle wollten immer irgendwas von mir, was mir eine privilegierte Stellung verschaffte. In meiner Freizeit las ich Bücher und schrieb Lyrik und Prosa.
Bis zu diesem Tag – A-Kompanie!
Es waren Männlichkeit, Durchsetzungsvermögen mit Kommandos, Leitung und Schikanieren angesagt. Alle gaben mir kluge Ratschläge, wie ich so eine Gruppe junger Männer klein und gefügig machen könnte. Der Tag kam und 120 Eingezogene standen frisch angereist auf dem Exerzierplatz. Eingerückt zur Grundausbildung, um anschließend auf alle Gefechtsstellen an der Ostseeküste verteilt zu werden.
Ich stand neben dem Offizier, mit mir drei weitere Unteroffiziere, um den eigenen Zug von dreißig Mann in Empfang zu nehmen. Mir graute! Ich war neunzehn, unreif, zart und weich. Ich hatte noch nicht gelernt, nein zu sagen. Die anderen Zugführer waren echte Haudegen, schon bekannt für ihre Strenge in der Ausbildung. Sie waren als Schleifer oder Züchter verschrien, besaßen kräftige sonore Organe, wenn sie Kommandos brüllten. Ich wollte keine Kommandos schreiend von mir geben!
Jedoch laut und vorher tief Luft gezogen: „Zweiter Zug stillgestanden! Rechts um! Im Gleichschritt Marsch!“. Hinter mir, am Küchengebäude, lachten einige Kameraden, die mich als den weichen Weber kannten, wie ich nun die Stimme formte, um robust durchsetzungsstark zu kommandieren. Sie alberten und prusteten, bis der Major sich zu ihnen umdrehte und sie schnell im Haus verschwanden.
Alles nahm seinen Lauf. Um den Zug so zu führen, dass sie mir nicht auf der Nase herumtanzten, musste hart durchgegriffen werden. Meine Angst war so stark, dass ich morgens schon Magengrummeln hatte, wenn ich die Stärkebekundungen, das Wetteifern der Kameraden beim Waschen kommentieren musste. Ich durfte nicht weibisch gelten, nicht zum Spott der gehäuften Männlichkeit werden. Denn das wäre für den Rest der Dienstzeit ein ewiger Spießrutenlauf. Wobei der, bei den Preußen erfunden, für noch mehr Männlichkeit stand und steht. Denn diesen Lauf mussten echte Kerle überstehen. Ich lief also schon gedanklich durch eine Reihe brüllender Kameraden, die mich mit ihren Schlägen auf den nackten Rücken jagten und lief Gefahr, zusammenzubrechen.
So passte ich mich mehr und mehr an, lernte, nur noch hinten zu gehen, neben dem letzten Glied, sodass die Soldaten keine Chance hatten, unbemerkt Kommandos zu boykottieren. Und wenn mal etwas nicht funktionierte, die Schritte asynchron gesetzt wurden oder jemand stolperte, dann ergriff ich Maßnahmen. Sie mussten zu meiner Trillerpfeife Liegestütze machen, bis sie zitternd zusammenbrachen oder im Schleichmodus auf allen vieren mit Gepäck kriechen, durch Pfützen und Löcher. Um zu erschrecken, schrie ich mitunter: „Kompanie, Flieger von links!“ Und alle rannten in den rechten Graben, legten sich nieder. Wieder auf und wenn ich wollte, das Ganze nochmals, aber nach der anderen Seite. „Gas, Schutzmasken auf!“, war auch ein vielversprechendes Erziehungsmittel. Denn mit Gasmaske im Laufschritt und hinterher Dichteprüfung war ein fieses Ausbildungselement. Ich baute mich vor dem jeweiligen Soldaten auf und hielt den Filter der Atemschutzmaske zu, japste der Soldat nach Luft, war die Maske dicht. Bekam er noch Atem, musste korrigiert werden. Ich hatte die Macht!
Am Abend in dem Zimmer mit den drei Zugführerkameraden tranken wir Schnaps, spielten Skat und rauchten. Unser Raum war mitunter so verqualmt, dass die Augen brannten. Morgens waren wir die Ersten, die aufstanden, um die Züge in den Tag zu übernehmen und durchs Waschen und das Frühstück zu hetzen.
Ich hatte mittlerweile den Ruf eines Schinders. „Respekt!“, riefen mir einige der Alteingesessenen zu, „Dein Zug spurt am besten. Da traut sich ja keiner, zu mucksen. Hätten wir dir echt nicht zugetraut!“. Ich brüllte wie ein Berufssoldat und schleuderte die Kommandos heraus wie scharfe Gewehrsalven, sodass die Worte kaum noch zu erkennen waren. Ich stand breitbeinig martialisch vor dem Zug, meine Mimik reglos finster, die Schirmmütze tiefer ins Gesicht gezogen als erlaubt. Mein Zug vollführte seine Bewegungen wie ein einziges dickes dunkelgrünes Tier, niemand tanzte aus der Reihe, ein festes Gebilde. Der Klang der gesetzten Stiefel wie der eines einzigen Paares, dafür aber laut und unbarmherzig. Gleichschritt in Vollendung! Gleichschaltung! Ich hätte mit meinem Zug bei öffentlichen Militärparaden mitwirken können, wir wären nicht aus dem Gesamtbild gefallen.
Morgens zitterten inzwischen meine Hände beim Aufstehen, das war neu. Ein Kollege merkte an, man solle immer mit dem beginnen, womit man abends aufgehört hatte, dann bekäme man kein Zittern und keinen Kater. So tranken wir nun schon am frühen Morgen vor dem Frühstück „Blauen Würger*7“!
Ich bekam Besuch von meiner Freundin Nicole, jedoch keinen Ausgang. Wir saßen beide in der MHO*8 bei einem Glas Tee und unterhielten uns. Ich blickte tief in ihre sanften Augen und berichtete von meinen „Heldentaten“. Nicole holte immer wieder tief Luft und schüttelte den Kopf, was mich wunderte. Weil ich sie scheinbar nicht genug beeindruckte, malte ich die fiesen Erziehungsmethoden aus und unterstrich meine Unerbittlichkeit. Ich hatte meine Männlichkeit bewiesen.
Meine Freundin erhob sich abrupt, schnappte nach Luft und war puterrot im Gesicht. „Weißt du Thomas, ich denke, du bist auf einem vollkommen falschen Weg angekommen. Warst du es nicht immer, der stolz darauf war, nicht in der FDJ zu sein, der sich riesig darüber freute, zum Sanitätsdienst zu kommen, denn bei den Mot.-Schützen*9 würden sie dich fertig gemacht haben und warst du es nicht auch, der betonte, dieser Staat und alle totalitären Regime würden nur bestehen, weil es dumme Mitläufer gäbe? Ich kann nicht mit jemandem zusammen sein, der sich anhört, wie ein Obersturmführer der SS. Und denke doch mal nach, auf wen eure Scheißraketen ausgerichtet sind, auf Deutsche, du Hirni! Ich ärgere mich, dass ich hier angereist bin und mit so einem Trottel zusammen bin, der stolz darauf ist, dass deinen dir verantworteten jungen Menschen, wie hast du vorhin gesagt, der Saft in der Kimme kocht. Pfui, schäm dich, du sadistischer Vollidiot.“ Sie drehte sich um und verließ die Gaststätte. Ich rief einmal zaghaft „Nicole!“ Aber sie drehte sich nicht mehr um.
Ich verkrümelte mich in den Med.-Punkt. Dann saß ich zwischen Feldausrüstungskisten und Felddecken, dachte nach. Ich hätte wieder hinüber ins Zugführerzimmer gemusst, aber eine große Scham hielt mich gefangen. Ich dachte an Menschen, die mich lieben und wie sie mich so sehen würden. Und mein Selbstwertgefühl wuchs zu einem Berg aus grauem Gespinst Ekel und Abscheu vor mir selbst. Ich bin kein Militär, kein Mitläufer!
Drüben würden sie mich wieder mit Gejohle und Schnaps empfangen. Die Offiziere sahen übrigens großzügig über die unerlaubten Abendpartys der Ausbilder hinweg. Warum wohl? Irgendwie hatte ich tatsächlich alle meine Ideale verraten. Ich hatte mich komplett verlaufen! In meinem Kopf hörte ich „Where Have All the Flowers Gone“ …
Ich brauchte die Macht über mich zurück!
Ich trank nicht mehr, hatte drei schwere zittrige Tage Entzug. Die Vorwürfe, ich sei ein Weichei, überhörte ich lächelnd. Als ich unbeobachtet von Vorgesetzten vor meinem Zug stand, nahm ich verbissene Gesichter wahr. Sie warteten bestimmt auf meine nächste Schikane an ihnen. Mir war zum Heulen zumute. Ein Gefühl wie schwarzer Teer kroch vom Magen hoch zur Kehle. War es Wut, war es Scham? Ich ein sadistischer Schinder? Nein!
Ich entschuldigte mich bei meinen Soldaten für meine Härte. Ich sprach von Hierarchie, Gruppenzwang, Mut und Feigheit. Sie lauschten konzentriert, nur die Vögel zwitscherten dazwischen. Ich bot an, die restliche Zeit der Ausbildung keinen Drill, keine Gängelei mehr, so lange sich alle an Spielregeln hielten: Darüber zu schweigen und zu funktionieren. Ich ging ein beachtliches Risiko ein. Und? Es funktionierte! Wenn wir im Gleichschritt in die Kaserne kamen, der Zug die „Moorsoldaten*10“ sang und vorbildlich auf dem Exerzierplatz zum Stehen kam, war ein großes verschworenes Lächeln. Ich kam mir vor, wie ein heimlicher Widerständler.
Nicole habe ich, trotz Bemühen, nie wiedergesehen.
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1-Ausbildungs-Kompanie vier Wochen in der NVA der DDR
2-Medizinischer Punkt zur Erstversorgung mit wenigen „Notbetten“
3-sowjetisch-russisches Sturm- und Maschinengewehr,
4-Die Pistole Makarow, kurz als PM bezeichnet, ist eine in der Sowjetunion entwickelte und bis heute produzierte Selbstladepistole
5-Sanitätskraftwagen
6-LO ist die Bezeichnung für Luft-Otto-Motor der Robur – LKW-Baureihe der Zittauer Robur-Werke, die von 1961 bis 1991 hergestellt wurde, ohne Wasserkühler
7-In der DDR war der Blaue Würger ein preisgünstiger Wodka, der seinen Spitznamen dem blauen Etikett und dem Halskratzen beim Trinken verdankte.
8-Militärhandelsorganisation, ein staatliches Einzelhandelsunternehmen in der DDR, das in den Kasernen der NVA Verkaufsstellen mit Lebensmitteln, Büchern usw. und gastronomische Einrichtungen betrieb
9-Die motorisierten Schützentruppen, kurz: Mot-Schützen, waren eine tragende Waffengattung der Landstreitkräfte
10-Die Moorsoldaten, auch als Moorsoldatenlied, Börgermoorlied oder kurz Moorlied bezeichnet, ist ein Lied, das 1933 von Häftlingen des Konzentrationslagers Börgermoor bei Papenburg im Emsland geschrieben worden ist. Es war in der DDR-Kampfliedtradition sehr populär beim Marschieren.
9929 ohne Endnoten