Von Björn D. Neumann

Es ist Montagabend. Der erste Arbeitstag der Woche ist immer besonders stressig. Mit einer dicken Decke eingemummelt liege ich auf der Couch. Der Tee in der Tasse dampft verführerisch. Was im Fernsehen läuft, nehme ich kaum wahr. Der Regen, der monoton ans Fenster klopft und das schwindende Tageslicht legen sich, wie die kuschelige Decke um meinen Körper, um meine Seele. Mühsam versuche ich meine Augen aufzuhalten. Aber ich habe heute noch etwas vor. Ich habe mir fest vorgenommen, heute spazieren zu gehen.

Mühsam quäle ich mich vom Sofa hoch und tapse mit hängenden Schultern ins Schlafzimmer. Ein dicker Pullover, robuste Jeans und dicke Wollsocken liegen schon auf dem Bett bereit. Komplettiert wird meine sturmfeste Ausrüstung noch durch die schweren Outdoorschuhe, eine regenfeste Jacke, Schal und Handschuhe. Bei dem Wetter schickt man eigentlich keinen Hund auf die Straße, aber es geht um nicht weniger als die Freiheit. Meine Freiheit. Im Rausgehen fische ich noch ein selbstgebasteltes Plakat, das mittels zweier abgesägter Besenstiele entfaltet werden kann, aus dem Schirmständer.

Mittlerweile ist es draußen stockdunkel. Bis auf wenige Menschen, die mit Einkaufstaschen beladen und Schirmen bewaffnet gegen das Unwetter ankämpfen, ist niemand unterwegs. Jeder hat nur im Sinn, ins warme Heim zu gelangen. Gedimmte Lichter und das Blau der Fernsehgeräte spiegeln sich in den Pfützen, in denen die Regentropfen konzentrische Kreise bilden. Die Autos, die voll aufgeblendet die Hauptstraße entlang zischen, unterbrechen immer wieder die fast friedliche Stimmung. Warum sind die Straßen so menschenleer? Wo sind die Menschen, die für ihre Rechte einstehen? Sieht denn niemand, was gerade passiert?

Immerhin werden es mehr Menschen, je näher ich dem Marktplatz im Zentrum der Stadt komme. Von Ferne höre ich den metallischen Klang einer Stimme, die durch die elektrische Verstärkung eines Megaphon verzerrt ist. Ich verstehe nicht, was gerade gesagt wird, aber der Tonfall klingt energisch und wütend. Immer wieder wird die Rede durch Applaus, Jubelgeschrei und das schrille Benutzen von Trillerpfeifen unterbrochen.

Je näher ich komme, umso deutlicher wird die Stimme. Ich höre vereinzelte Worte. Es wird von Diktatur, Freiheitsberaubung und Zwangsimpfung gesprochen. Richtig, Ich will mich nicht impfen lassen. Ich habe Angst. Auch vor dem Virus habe ich Angst, aber im Internet habe ich gelesen, dass die Nebenwirkungen dieser neuartigen Impfstoffe viel, viel schlimmer sind als eine Infektion. Ich will mich auch nicht infizieren, eigentlich vertraue ich der Medizin, aber ich will selbst über meinen Körper entscheiden.

Der Marktplatz liegt im Dämmerlicht der Straßenbeleuchtung. Die Einsatzfahrzeuge der Polizei werfen zuckende, blaue Lichter an die Häuserwände. Auf dem Platz haben sich vielleicht zweihundert Mitstreiter versammelt. War nicht von Tausenden im Netz die Rede? Egal, ich suche mir einen Platz bei den Menschen, die sich um den Redner versammelt haben. Etwas abseits ziehe ich mir meine FFP2-Maske über. Ich will mich nicht infizieren, aber vor allem nicht meine Mutter, die im Pflegeheim lebt.

Einige Besucher drehen sich argwöhnisch nach mir um. Keiner trägt hier eine Maske. Nach ein paar Minuten kommt der erste auf mich zu. „Nimm besser den Lappen runter“, zischt er mir zu.

„Bitte?“, antworte ich konsterniert.

„Du bist doch wohl keine Systemhure, oder?“

„Ich…“, meine Antwort wird vom Glockenspiel der Rathausuhr unterbrochen. Der Mann dreht sich abrupt wieder der Menge zu. Es ist 19 Uhr und der Megaphon-Redner ruft zum Sammeln auf. Ich bin froh, dass sich der Konflikt gerade nochmal aufgelöst hat. Ich entrolle mein Plakat und schließe mich der Menge an, die sich hinter einem Polizeifahrzeug formiert. Links und rechts stehen Beamte behelmt, in voller Kampfmontur. Vor wem haben die Angst? Vor Friedensdemonstranten? Solch ein Exemplar, dem ich gerade begegnet bin, wird ja wohl die Ausnahme sein. Idioten gibt es überall.

Der Treck setzt sich langsam in Bewegung. Gott sei Dank nimmt niemand mehr von mir und meiner Maske Notiz. Geht doch. Zeit für mich, mir meine Mitstreiter genauer anzusehen. Ich sehe ein paar Familien mit kleinen Kindern und Kinderwagen. Na, ob das sein muss? Ich bin selbst Erzieherin und käme nie auf die Idee, meine kleinen Schützlinge auf eine Demo mitzuschleifen. Ganz davon abgesehen, dass es jetzt für die Kinder zu spät ist. Weiter vorne nehme ich einige Glatzköpfe wahr. Ich bin neugierig, wer das ist und versuche mir eine bessere Sichtposition zu verschaffen. Und bin entsetzt. Die Glatzköpfe sind circa 20 Personen. Gekleidet in Bomberjacken und Springerstiefeln, schwenken sie schwarz-weiß-rote Flaggen.

Schockiert lasse ich mich wieder zurückfallen und stoße mit einer Person zusammen. „Hoppla, nicht so stürmisch“, lächelt mich der Mann an. Er ist nobel gekleidet, macht einen seriösen Eindruck und ich bin wieder etwas beruhigt.

„Haben Sie die Nazis gesehen? Wie kommen die denn hierher?“, frage ich konsterniert.

„Gute Frau! Das sind junge Leute, die sich um Demokratie und Freiheit ihres Vaterlandes sorgen. Wir sind doch alle hier, weil wir uns gegen das internationale Geflecht der Pharma-Industrie wenden. Das ist ja schließlich unsere patriotische Pflicht, nicht wahr? Diese Maske, die Sie tragen ist übrigens das äußere Zeichen, uns Deutschen den Mund zu verbieten. Vielleicht sollten Sie die abnehmen.“

Erst jetzt nehme ich das AfD-Parteiabzeichen am Revers wahr. Mir wird schlecht. Ich lasse den Mann stehen und suche wieder die Gruppe der Eltern. Ich sehe mehrere ältere Menschen, die auf mich einen freundlichen Eindruck machen. Offenbar kommen die aus der alternativ-esoterischen Friedensbewegung. Jedenfalls lässt ihre Kleidung darauf schließen. Bunte selbstgestrickte Wollpullover, Selbstgefilztes und Picasso-Friedenstauben als Anstecker. Nicht meine Welt, aber immerhin keine Nazis. Ein graugelockter, hagerer freundlicher Mann mit Harry-Potter-Brille spricht mich an. Ich höre einen breiten schwäbischen Dialekt. „Du weißt schon, dass du dich selbst vergiftest mit der Maske?“ Ich gebe endlich auf und nehme die Maske ab. „Siehst du, so ein schönes Gesicht! Das wollen wir doch nicht verstecken. Außerdem schlägt es auf die Psyche, wenn man niemanden mehr lächeln sieht. Dafür ist der Mensch nicht geschaffen, weißt du?“

„Aber das Virus …“

„Gibt es doch gar nicht. Es gibt die Grippe und das schon seit Tausenden von Jahren. Und damit kann man sich natürlich davor schützen.“ Mit diesen Worten steckt er mir ein Fläschchen Globuli zu. „Nimm das. Die Natur heilt, nicht die Chemie. Was steht eigentlich auf deinem Plakat, dass du da mit dir rumschleppst“

„Ähm … Erst ausgiebig forschen, dann impfen!“

„Ja bist du denn verrückt? Jede Impfung, egal wie lange man forscht, ist Gift! Egal, ob Masern, Grippe oder sonst was.“ Er redet sich jetzt vollkommen in Rage. Mit wutverzerrtem Gesicht erklärt er mir, dass es sich um eine Weltverschwörung der Reptiloiden handelt, die uns alle umbringen wollen. Dass Geimpfte Spike-Proteine verteilen, mit denen sie die Ungeimpften infizieren. Spuckefäden rinnen ihm die Mundwinkel herunter. Der Verschluss einer Kamera klickt vom Straßenrand und ein Blitzlicht blendet mich. Wutentbrannt stürmt der Mann auf den Fotografen zu. „Lügenpresse! Lügenpresse!“

Ich bin weiter auf der Suche nach der Elterngruppe. Da sind sie! Als ich mich gerade auf sie zubewege, versucht die Spitze des Zuges die vorgeschriebene Route zu verlassen und in eine Seitenstraße abzubiegen. Routiniert bilden die Polizisten eine Kette und riegeln den Zugang ab. Ebenso bildet die Spitze der Demonstranten, wie als wäre es abgesprochen, eine Gasse. Das Megaphon plärrt: „Eltern vor!“ Im Sturmschritt rauschen Eltern mit dem Kinderwagen voran durch die Gasse. Kinder im Wagen werden quasi als Waffe genutzt, um die Polizei zurückzudrängen, in dem Wissen, dass die Beamten dagegen nicht gewaltsam vorgehen werden.

Dann Schreie, Panik. Einer der Beamten hat in seiner Not eine Pfefferspray-Wolke hoch über die Köpfe der drängenden Masse versprüht. Kein direkter Angriff, aber selbst mir brennen in den hinteren Reihen die Augen. Ich habe genug. Ich will nach Hause.

Ich habe mich verlaufen. Ich kenne die Straßen und Plätze, durch die ich gelaufen bin und doch ist mir alles fremd. Es sind die Menschen, mit denen ich seit Jahrzehnten zusammenlebe, aber doch blicke ich in unbekannte Gesichter. Ich bin mit Nazis gelaufen, gegen die ich vor Jahren demonstriert habe. Die jetzt ihre Ideologie hinter einem imaginären Freiheitskampf verstecken. Höre auf Alternativmediziner, obwohl ich doch meinem Arzt vertraue. Soll abstrusen Verschwörungen Glauben schenken, obwohl ich fest mit beiden Beinen im Leben stehe. Gefahren werden geleugnet, die existent sind. Und am schlimmsten – ich muss tatenlos zusehen, wie Eltern ihre Kinder, die ich im Berufsleben schütze, als Waffe einsetzen. Ich war auf einem Irrweg. Habe auf Menschen gehört, die kein Gehör finden sollten. Ich spüre, dass ich auf einem falschen Weg war.

Endlich zu Hause. Ich bin durchgefroren, aber noch mehr bin ich verwirrt. Wem soll ich noch glauben? Morgen werde ich einen Termin bei meinem Hausarzt machen und mit ihm nochmal über die Impfung sprechen. Es ist ja noch nicht zu spät. Aber erstmal mache ich mir einen heißen Tee. Mein Hals kratzt fürchterlich.

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