Von Kornelia Kirchhoff

„Kannst du heute Abend zurückkommen? Morgen erwarten die in der Kita Hilfe wegen der Nikolausfeier. Das ist übrigens Elterndienst, nicht Mütterdienst!“ 

Marcel reagiert betont gelassen, er verspricht seiner Frau es zu versuchen. Aber sie würde seinen Vater ja kennen. Ein paar Stunden werden nicht reichen. Er wird sich sicher auch morgen noch um ihn kümmern müssen. 

Was er sagt, klingt für ihn, als würde er es aus der hintersten Ecke des Raumes hervorzerren. Jedes Wort, das seine Stimmbänder formen, scheint bestückt mit kleinen Widerhaken. Anne fällt nichts auf, sie gibt sich zufrieden. Marcel fährt seit dem Tod seiner Mutter regelmäßig mit dem Zug nach Berlin. Nichts Ungewöhnliches. Sein Vater weigert sich zu ihnen nach Wolfsburg zu ziehen. Er geht selbstverständlich davon aus, dass Marcel sofort kommt, wenn es etwas zu regeln gibt, er gesundheitliche Probleme hat oder einfach nur seinen Sohn sehen möchte. In seiner Sicht der Dinge müssen die Kinder für ihre Eltern da sein. Meist bleibt Marcel für ein oder zwei Nächte in Berlin. Er verbindet seine Verpflichtung dem Vater gegenüber mit dem Angenehmen und besucht alte Schulfreunde. Während er seine Auszeiten in Berlin hat, ist Anne zu Hause bei den Kindern. Sie fand ihren Schwiegervater schon immer zu anstrengend. 

 

Marcel holt seine Jacke von der Flurgarderobe und geht noch einmal in den geordneten, viel zu großen Wohnbereich, um sich von seiner Familie zu verabschieden. Anne ist in ihrem Element, als wäre sie in einem Hütchenspiel vertieft, schiebt sie hoch konzentriert alle morgendlichen To-dos hin und her. Dennis die Schuhe zu binden, Emmas Schultasche kontrollieren zwischendurch einen Schluck Kaffee, ohne sich hinzusetzten. Marcel steht im Türrahmen, wie aus der Szene heraus gefallen, gefangen in der Rolle des Beobachters. Anne, für die alles selbstverständlich zu sein scheint, die nie ihre Zuversicht verliert. Anne, jeder ihrer Handgriffe ist ihm vertraut. Sie, die ihm das Gefühl gegeben hatte, angekommen zu sein. Wann hatte sie sich wieder in eine Fremde zurückverwandelt? Die junge Frau, die Gefährtin, die Verbündete an seiner Seite war ohne Vorwarnung, ohne ersichtlichen Grund verschwunden. Eines Morgens war er allein aufgewacht und neben ihm lag eine toughe, souveräne Frau, die Mutter seiner Kinder. 

 

Mit 31 dachte er, die Ehe mit ihr würde seinem Leben Halt geben. Als sie acht Jahre verheiratet waren und Emma gerade vier, schlich sich zum ersten Mal die heute so schmerzhaft normale Kälte zwischen sie. Hilflos mussten sie zusehen, wie der Alltag ihre Unbefangenheit in Fesseln legte. Bevor die Ohnmacht noch tiefere Wunden schlagen konnte, entschieden sie sich, ein Haus zu kaufen. Sie hielten ihr Vorhaben für eine neue gemeinsame Herausforderung. Lenkten sich ab mit Einrichtungsfragen und Handwerkerterminen, pflanzten den Baum, waren voller Energie. Sie schufen zusammen einen hellen, modernen Rückzugsort, glaubten daran, alles in weiß und schwarz sei nach ihrem Geschmack. Drei Jahre später wurde Dennis geboren. Alles lief wie geplant. Umso erschreckender, wie schnell das Leben zur grauen Gewohnheit wurde und sich die Jahre hinter seinem Rücken verabschiedeten. Was blieb, war eine unerträgliche Sehnsucht, die sich nicht mehr aussperren ließ. Egal wie sehr er sich zusammenriss, wie sehr er auch versuchte, seine Gedanken im Zaum zu halten, sie zerrten am Halfter, sie bäumten sich auf und wehrten sich gegen den Sinn des gebundenen Seins. Er liebte seine Kinder, vielleicht hatte er heimlich erwartet, dass sie ihm Lebenssinn geben könnten. Wenn er das je gehofft haben sollte, würde er es auf keinen Fall laut aussprechen. Seine Kinder sollten um ihrer selbst willen leben. Niemals würde er über sie verfügen, wie es sein Vater so selbstverständlich mit ihm tat. Keinesfalls wollte er so konservativ wie der alte Mann sein, der nur in der Familie den Sinn des Lebens sah und der den einmal eingeschlagenen Weg nie verlassen hätte. 

          

„Sagt Papa Tschüss und holt eure Jacken.“

Er beugt sich zu Emma herunter. Sie legt die dünnen Mädchenarme um seinen Hals. Sie riecht frisch gewaschen und nach Tagesaufbruch. Dennis zerrt an seiner Hand. Er löst sich von seiner Tochter, nimmt den Kleinen mit einem Schwung auf den Arm.

„Nicht vergessen, du musst deinen Stiefel vor die Tür stellen, morgen kommt der Nikolaus“

Er setzt ihn wieder ab und Dennis läuft seiner Schwester hinter her. 

 

Für einen kurzen Moment stehen Anne und er allein in dem großen Raum. Plötzlich scheinen mit einem Ruck alle Planeten anzuhalten, Stille herrscht, die Dinge verharren an ihren Plätzen, die Welt atmet ein und hält die Luft an. Anne, sieh mir noch einmal in die Augen. Anne, streich mir noch einmal die Haare aus der Stirn und lass deine Hand auf meiner Wange ruhen. Anne, hab Mitleid mit uns. 

 

Anne nimmt sich den Autoschlüssel und folgt den Kindern, stoppt kurz vor Marcel, gibt ihm einen flüchtigen Kuss. 

„Dann bis morgen Abend. Lass dich nicht zu sehr einspannen, du braver Sohnemann.“

In der geöffneten Haustür dreht sie sich um.

„Dein Taxi kommt.“ 

Er nimmt seine Sporttasche, in der er das Nötigste für eine Übernachtung eingepackt hat. Vor der Tür kann er noch seiner Familie hinterher winken. Während er den Schlüssel ins Schloss steckt, lehnt er erschöpft die Stirn gegen das kalte Metall der Tür. Er hofft, die Kälte könnte in sein Gehirn eindringen und seine Gedanken lahmlegen. Doch alles, was er versucht, hinter seiner Haustür zurückzulassen, weigert sich dort eingesperrt zu werden. Die Fragen wabern durch jede kleinste Ritze; was hat er in all den Jahren versäumt, was übersehen, wann haben sich seine Träume in eine Falle verwandelt?

 

„Hallo! Haben sie ein Taxi bestellt?“

Der Fahrer sieht auffordernd zu ihm herüber. Marcel lässt sich auf die Rückbank fallen.

„Zum Bahnhof bitte.“

Er bemüht sich, keinen Blick mehr auf das Haus zu werfen. Er will nach vorn sehen. Es fällt unentschiedener Nassschnee, mal mehr Regen, mal mehr Schnee. Weder das eine noch das andere so richtig. Der Schnee klatscht in matschigen Klumpen auf die Windschutzscheibe und bricht das Scheinwerferlicht der entgegenkommenden Fahrzeuge, verwandelt es in grell strahlende Sterne. Auf der B 188 hat der Taxifahrer freie Fahrt. Wenn er beschleunigt, verwandelt sich der Schneefall in weiße Strahlen, die auf die Scheibe zuströmen und es so aussehen lassen, als würde der Wagen in einen gestrichelten Tunnel hineingezogen. Ein Tunnel ohne ein Ende, immer nur weiter geradeaus.

 

Bevor er zum Zug geht, biegt er im Bahnhof zu den Schließfächern ab, Fach 31. In der letzten Woche hatte er hier einen Koffer eingeschlossen. Immer wenn er zum Sport fuhr, nahm er Kleidung, Bankunterlagen und Versicherungsdokumente mit, die er dort verstaute. Anne war nicht aufgefallen, dass die Dinge ihr Haus verließen. Er wundert sich, wie leicht sein Plan umsetzbar war. Sah sie ihn überhaupt noch? Machte sie sich noch Gedanken über ihn? Sein Gewissen dreht sich im Kreis, will Absolution. In den letzten Monaten war er ungerecht und abweisend zu Anne. Sogar die Kinder behandelte er ungeduldig. Erst jetzt, erst hier mit dem gepackten Koffer in der Hand, kriecht plötzlich die Scham auf ihn zu, blickt sich verstohlen um, klettert auf seine Schultern und krallt sich in seinem Nacken fest. Ja, er weiß, er hat seine Frau wie ein boshaftes Kind hintergangen. Aber er kann nicht vermeiden, dass sein Verrat ihm Freude bereitet, er sich lebendig und mutig fühlt.    

 

Im Zug sieht er auf seinem Handy ihre Nachrichten. „Bleibt es dabei? Kommst du wirklich? Ich warte.“ Dann noch eine „Kommst du???“ Und danach „Wann kommst du, ich hol dich ab.“ Er hatte sich in sie verliebt, weil ihre Gefühle so intensiv und direkt sind. Ihre Offenheit und ihre starrköpfige Weigerung, sich zu beherrschen, hatten ihn sofort angezogen. Er genoss auch, derjenige zu sein, dem sie sich so sehr auslieferte. Doch jetzt, beim Anblick ihrer Nachrichten, wünschte er, sie würde ihn kurz in Ruhe lassen. Für ihn ist es doch auch nicht leicht.“Vertraust du mir nicht? Wenn ich sage, ich komme, dann komme ich auch.“

 

Sie hatte ihm gegeben, was im schwarz-weißen Haus verloren gegangen war. Mit ihr zusammen gab es keine Verpflichtungen. Es ging nur um sie und ihn. Nicht um Kindererziehung, nicht um Rechnungen, nicht um den nächsten Urlaub. Marcel schaltet sein Handy auf lautlos, er schließt die Augen und glaubt noch das kalte Metall der Haustür an seiner Stirn zu spüren. Wenn er sonst zu ihr fuhr, konnte es ihm nicht schnell genug gehen. Weg von seinem abgestumpften Funktions-Ich, hin zu Wiedersehensliebe und Lust. Die Zeit verflog, wenn er bei ihr war. Zähflüssig die Wochen bis zur nächsten Flucht. In den letzten Monaten glaubte er seine Situation sorgfältig überdacht zu haben, sich klar entschieden zu haben. Umso erstaunter ist er über die Verwirrung, die sich jetzt ausbreitet. Innehalten können, nachdenken – die Zugfahrt könnte ihm dafür eine Atempause verschaffen. Stattdessen rasen seine Gedanken wie die Landschaft vor dem Fenster, nichts kann er genauer betrachten. Plötzlich die Durchsage „In wenigen Minuten erreichen wir Berlin Hauptbahnhof …“ Es ist, als ob sich die Geschwindigkeit des Zuges auf die Zeit übertragen hätte. 1 Stunde 35 Minuten im Sog des Fahrtwinds und Marcel wurde mitgezerrt. 

 

Im Hauptbahnhof muss er nicht über den Weg nachdenken. Doch unvermittelt bleibt er am Fuß der Rolltreppe stehen. Noch 5 Minuten bis zur Abfahrt der Straßenbahn. Es riecht nach Pizza – er könnte erst noch was essen. Doch sie wartet. Noch 4 Minuten! Die Minuten sind viel zu kurz. Noch 3 Minuten! Das kann nicht sein! Noch 2 Minuten! Wenn sie jetzt denkt, er käme nicht! Noch 1 Minute! Für einen kurzen Moment, für eine Ewigkeit fällt ein heller Sonnenstrahl auf sein Gesicht. Er dreht sich nach links, geht auf die riesige Glasfront in der Bahnhofshalle zu. Er setzt sich davor auf eine Bank, sieht hinauf in den trostlosen Dezemberhimmel – graublau.

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