Von Helmut Blepp

Ich hatte von ihm gehört, aber lange vergeblich nach ihm gesucht. Jetzt saß der kleinwüchsige Alte endlich vor mir. Das Lokal war schwach beleuchtet. In dem diffusen Licht wirkte er fast wie eine der Fratzen, die in die Täfelungen und Balken geschnitzt waren. Seine Augen waren von dicken Brauen beschattet. Sein Bart wippte bei jedem seiner Worte. 

„Du willst sie tatsächlich kaufen?“ 

Er schien erstaunt, obwohl er doch wissen musste, wozu unser Treffen dienen sollte. Ich nickte entschlossen und fragte: „Wo hast du sie gefunden? Ist sie es wirklich?“

„Natürlich ist sie es. Die Quelle ist verbürgt. Ich war selbst dabei, als sie gefasst wurde. Unappetitliche Sache! Ihren Opfern strömte noch das Blut aus den Augen. Aber jetzt ist sie in Glas verpackt und kann keinen Schaden mehr anrichten.“ 

„Warum hat sie das überhaupt gemacht? Das war so sinnlos.“ 

„Hat wohl mit diesen Äpfeln zu tun. Man sagt, sie bluten. Wahrscheinlich enthalten sie einen Stoff, der verrückt macht“ 

Er schaute mich an, als sei er nicht sicher, ob er mir die ganze Wahrheit zumuten könne. Dann schien er zu einem Entschluss zu kommen.

„Pass auf, Junge! Ich mag dich wirklich. Und ich wünsche dir nichts Böses. Du kannst sie haben, sogar zu einem bescheidenen Preis, aber wenn ich ehrlich bin, gut ist die Idee nicht. Was du willst, kriegst du an jeder Straßenecke. Und du bist nicht wie ich. Schau mich doch an! Mir laufen die Weiber bestimmt nicht nach. Aber du brauchst dich nur irgendwo blicken zu lassen, und sofort wirst du umschwärmt.“ 

„Dafür brauche ich sie nicht“, gab ich verärgert zurück. „Ich kenne sie nur zu gut und bin mir im Klaren darüber, worauf ich mich einlasse. Sie hat unsere Mutter auf dem Gewissen, hat sie verleumdet und in den Tod getrieben. Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß, hätte das Luder Allerheiligen nicht überlebt. Wie meine unglücklichen Brüder habe ich versagt damals. Ich könnte ihnen nicht mehr in die Augen schauen, wenn ich nun diese Gelegenheit verpasse.“

„Deine Brüder leben wenigstens noch. Die meinen sind damals in dem Bergwerk gestorben. Sie hat uns zur Arbeit dort gezwungen. Als die Felsen herabstürzten, hatten wir keine Chance. Dass ich überlebt habe, trage ich als Schande mit mir herum. Jede Nacht träume ich von sechs toten kleinen Männern und weine über den blutverschmierten Filzmützen, die ich aus dem Stollen geborgen habe.“

„Aber du lauschst nicht jedem Flügelschlag.“ 

Für einen Moment war jeder in seiner Trauer gefangen.

„Sei´s drum“, sagte ich dann. „Wann kann ich sie haben?“

„Wann immer du willst. Ich habe sie in einer Hütte im Wald.“

„Gut! Bringe sie heute Abend ins Schloss. Es wird beleuchtet sein, sobald die Sonne untergegangen ist. Ich werde eine Kammer für sie vorbereiten.“ 

„Noch eins!“ Er sah mich eindringlich an. „Sie ist sehr schön. Lass dich davon nicht täuschen. Wenn du ihr die kleinste Chance gibst, nutzt sie sie.“ 

„Das weiß ich nur zu gut.“

Ich dachte an meine Brüder. Einer nach dem anderen war ihr verfallen. Sie waren verwandelt zu mir zurückgekehrt, in Schwarz gehüllt, mit den kratzenden Stimmen alter Männer. Ihr Schicksal hatte mich mit Grauen erfüllt. Und dennoch war auch ich zu ihr gegangen, hatte ihr, von dem Anblick verzaubert, den Schlaf geraubt – und sie mir die Seele.

Der Alte musste mich schon eine Weile gemustert haben. Er wirkte nach wie vor besorgt. Mein langes Schweigen hatte wohl verraten, wie weit meine Erinnerungen mich mitgerissen hatten.

„Was hast du eigentlich mit ihr vor“, fragte er mit einem Stirnrunzeln. „Du wirkst nicht wie ein Mann, der zu töten bereit ist. Ich habe von mir geglaubt, ich sei so einer, aber als ich sie endlich in meiner Gewalt hatte, brachte ich es doch nicht über mich. Immer wenn ich bei ihr bin und sie im Schlaf beobachte, verhöhnt mich ihr entspanntes Gesicht, als wüsste sie um meine Ohnmacht. Glaub mir, ich bin froh, sie loszuwerden.“ 

Ich konnte mir ein mitleidiges Lächeln nicht verkneifen. Selbst dieser traurige Greis war noch besessen von ihr. Nach allem, was sie ihm angetan hatte, blieb ihm keine andere Wahl, als sie weiter zu lieben. Ich verstand ihn nur zu gut. 

„Sie soll niemanden mehr ins Verderben stürzen“, erwiderte ich. „Ich werde sie einschließen in diese Kammer. Am Tag soll die Sonne sie bescheinen und in der Nacht der Mond. Aber keiner wird sie jemals wieder erwecken. Ihre strahlenden Augen werden geschlossen bleiben, ihre zarten Lippen versiegelt. Ich kann sie nicht erlösen, aber ihren Bann brechen.“ 

„Dann sei es so!“ Er sprang so plötzlich von seinem Stuhl, dass ich erschrak. „Wir sehen uns bei Sonnenuntergang.“ Damit verschwand er grußlos. 

Ohne Eile trank ich meinen Wein aus. Dann verließ auch ich das Lokal und trat hinaus auf den Marktplatz. Der Himmel war wolkenverhangen. Im trüben Licht sah ich meine Brüder, die bewegungslos auf den Giebeln der den Platz umfangenden Patrizierhäuser saßen. Ich wollte sie nicht warten lassen und warf mir schnell den Rabenmantel über. Seine Kraft fuhr durch mich hindurch. Mit wenigen Flügelschlägen erhob ich mich über die Dächer und wandte mich dem Bergwald zu.

 

Heute ist der einunddreißigste Oktober. Schon bald werde ich den gläsernen Sarg öffnen, und kann es kaum erwarten. Seit Wochen schon sehne ich diesen Tag herbei, doch zuvor gab es viel zu tun, und alles sollte erledigt sein, bevor sie die Augen aufschlägt. 

Ich bin müde, doch nicht allein von den zurückliegenden Strapazen. Seit einigen Tagen schlafe ich schlecht, weil ich von meiner Mutter träume und immer wieder starr vor Schrecken erwache. Die Szene ist stets die gleiche. Ich sehe mich, wie ich meine Mutter füttere mit dem roten Mus der verfluchten Äpfel, wie sich ihre Augen weiten und sie erstickend einen stummen Fluch noch ausstößt, mit dem sie ihren jüngsten Sohn, den Mörder, zum Teufel wünscht. Ihr Anblick zerreißt mir fast das Herz. Aber was hätte ich anderes tun können damals? Sie hatte meine Liebste durchschaut und war bereit gewesen, ihre Söhne mit allen Mitteln vor ihrem Einfluss zu erretten. Eine rasende Mutter kann da ebenso grausam sein wie ein boshaftes Weib. Sie zwang mich zu einer Entscheidung, und ich entschied mich gegen sie. 

Der Raum erstrahlt im Schein hunderter Kerzen. Im Kamin flackert ein wärmendes Feuer. Es wird ihr gefallen. Sobald sie die Augen aufschlägt, werde ich sie in die Arme nehmen und zum Sessel tragen, wo ich den stärkenden Rotwein abgestellt habe. Dann werden wir uns im flackernden Schein der Flammen lieben. 

Und morgen werde ich ihr das Schloss zeigen. Alles ist geputzt und glänzt und trägt den Duft von Frühlingsblumen. Durch die großen Fenster des geschmückten Speisesaals wird die Sonne hereinscheinen, während ich ihr das letzte rote Mus kredenze. Nur in den Keller sollten wir nicht gehen, denn in der alten Seemannstruhe liegen sieben blutverschmierte Filzmützen und darüber sechs Rabenmäntel, in Höhe des Herzens durchbohrt.