Von Ingo Pietsch
Das Klavier
Irmgard blickte wehmütig auf ihr Klavier, das auf dem Bürgersteig stand.
Sie verweilte im Türrahmen ihres Hauses, das sich ein wenig abschüssig zur Straße befand. Dabei stützte sie sich auf ihren Rollator, ohne den sie kaum noch eine Strecke bewältigen konnte.
Irmgard war Mitte siebzig und liebte ihr Klavier, sowie ihr Klavier sie wahrscheinlich liebte, da sie es immer pfleglich behandelt hatte. Vielleicht liebte ihr Klavier sie sogar noch mehr.
Doch jetzt war der Zeitpunkt gekommen, dass sie sich trennen mussten.
Irmgard würde mit ihrem Mann ins betreute Wohnen zu ziehen und auch ihre Finger wollten nicht mehr so wie früher.
Das Schimmel Klavier war ihr immer ein treuer Freund gewesen. Obwohl es ein braunes aus Kirschholz gefertigtes Klavier war, hatte sie es liebevoll „Schimmel“ getauft, wohl auch, weil sie sich immer ein Pferd gewünscht hatte, ihre Eltern es in der Großstadt aber nicht hätten unterbringen können.
Das weiche Holz war sehr undankbar und wies nach ein paar Umzügen deutliche Gebrauchsspuren auf, was dem angenehmen Klang der Saiten aber keinen Abbruch tat.
Schimmel wurde regelmäßig poliert und gestimmt und war bald so etwas wie ein Familienmitglied geworden.
Irmgard entdeckte ihre Liebe zur Musik schon in frühen Jahren und auch ihr zwei Jahre älterer Bruder war ein Naturtalent.
Aber ihr Bruder behandelte das Klavier nur wie einen Gegenstand und nicht sehr würdevoll.
Eines Tages, als er ein Rock`n`Roll Stück auf Schimmel spielte, hackte er auf den Tasten herum. Dabei traf er nicht alle Töne und das Stück klang disharmonisch.
Voller Wut trat er gegen das Holz neben den Pedalen und verursachte so eine Beule im Holz. Zum Glück blieb das Klavier sonst unbeschädigt.
Dabei fiel die Tastenklappe mit solcher Wucht herab, dass er sich beide Handgelenke brach.
Irmgards Bruder war dermaßen eingeschüchtert, dass er seitdem einen großen Bogen um das Klavier machte.
Irmgard war gerade mit ihrem Studium fertig geworden, als ihre Mutter starb. Da eröffnete ihr Vater, dass er in eine kleine Wohnung ziehen wollte, Schimmel aber nicht mitnehmen konnte.
Irmgard meinte, sie könne das Klavier auch nicht unterbringen und sie sollten es besser verkaufen, obwohl sie noch immer gerne spielte.
Mit einem Mal rutschte ein Familienbild, das auf dem Klavier stand, in den Innenraum.
Ihr Vater und sie sahen sich fragend an, da es doch ein merkwürdiger Zufall war.
Er schaute in das Klavier und fischte den Bilderrahmen wieder heraus.
„Das Bild ist noch heile!“, meinte er belustigt und Irmgard lächelte zurück.
Doch dann riss eine Klaviersaite, zerschlug das Bilderglas und traf ihren Vater im Gesicht. Ein roter Striemen zog sich über eine Gesichtshälfte und hatte zum Glück das Auge nur knapp verfehlt.
Irmgard hielt es für ein Omen, behielt das Klavier und auch als sie heiratete, beglückte sie das Klavier mit seinem wundervollen Klang.
Kinder waren ihrem Mann und ihr leider nicht vergönnt und als sie fünfzig wurde, diagnostizierten ihr die Ärzte eine chronische Arthritis in den Händen.
Das Klavierspielen in Maßen würde sie vielleicht verlangsamen, aber es bereitete ihr solche Schmerzen, dass sie das Klavier nicht behalten wollte. Allein der Anblick sorgte bei ihr schon für Bauchschmerzen.
Sie wollte das Klavier einer Musikschule spenden, doch als das Transportunternehmen Schimmel gerade mit den Trageseilen anheben wollte, um es auf eine Rollplattform zu hieven und sie sich vom Klavier verabschiedet hatte, verrutschte einer der Gurte und einer der Packer verstauchte sich trotz Sicherheitsschuhe den Knöchel.
Irmgard hielt es wieder für besser, Schimmel zu behalten.
Ihr Mann hielt das alles für Aberglauben, als seine Frau von früheren, unheimlichen Ereignissen berichtete.
Trotzdem fühlte er sich immer unbehaglich, wenn er an dem Musikinstrument vorbeiging.
Er verspürte dabei etwas, als würde er beobachtet werden.
Eines Tages stellte er eine heiße Tasse Kaffee auf den Deckel des Klaviers.
Dabei hinterließ die Tasse einen hässlichen Rand auf dem Holz.
Irmgards Mann tippte ein paar Tasten an und plötzlich sprang ohne ersichtlichen Grund der Deckel auf. Die Tasse kippte um, verbrühte ihn. Der Kaffee lief die Wand hinter dem Klavier herunter und verursachte einen Kurzschluss in einer Steckdose, dass im ganzen Haus der Strom ausfiel.
Irmgard hasste das Tasteninstrument dafür aber nicht. Sie mochte die glatten, warmen Tasten, die unter ihren Fingern zu leben begannen. Schließlich hatte sie fast nur gute Erinnerungen an vergangene Zeiten.
Doch Aufgrund ihrer immer weiter voranschreitenden Krankheit, wurde das innigliche Zusammensein mit Schimmel immer seltener.
Und dann kam irgendwann die Zeit der Trennung.
Irmgard sah Schimmel wehmütig entgegen und rief nach ihrem Ehemann, er solle sich auch verabschieden.
Doch ihr Mann murmelte etwas Unverständliches und blieb im Haus.
Irmgard winkte ein letztes Mal und während die Möbelpacker die Plane des LKW hochzogen, setzte sich das Klavier auf den Rollplatten in Bewegung und fuhr auf Irmgard zu.
Immer schneller wurde es und Irmgard konnte nicht mehr ausweichen, als Schimmel sie erfasste und im Haus zerbarst.
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