Von Sabine Rickert

 

Völlig außer mir lief ich auf dem kleinen Feldweg hin und her und weinte  bitterlich. Gleich nachdem es passiert war, wurde mir klar, es ist für immer vorbei. Ich heulte den ganzen Frust raus, die Tränen liefen über mein verstaubtes Gesicht. Kurz vorher war ich fürchterlich in den Sand gefallen. Mit der Nase voraus, die Bremsfunktionen der Arme hatten versagt. Das rechte Handgelenk war umgeknickt und hatte seinen Dienst verweigert.

Vierzig Jahre lief es wie am Schnürchen ohne große Probleme. Das war schon eine lange Schonzeit. Die Gefahr schwebte ja immer wie ein Damoklesschwert über mir. Doch je länger nichts passierte, umso sicherer wurde ich mir meiner Sache. Einen Tag vor meinem zweiundfünfzigsten Geburtstag wurde mir schmerzhaft vermittelt, welch großes Glück ich in den letzten vierzig Jahren unbewusst genossen hatte.

Ich hielt das Handgelenk krampfhaft fest und rannte fast schon auf und ab vor Schmerzen. Ich wartete auf meinen Abholservice. Ich war nicht mehr in der Lage das Auto selber nach Hause zu fahren. Ich überzeugte mich schmerzhaft durch einen Versuch, den ersten Gang einzuschalten. Es klappte nicht! Ich nahm an, dass der Arm nicht nur verstaucht war. In der Notaufnahme der chirurgischen Ambulanz bestätigte der Arzt mir anhand des Röntgenbildes, dass das Gelenk gebrochen war.

„Typischer Bruch für Frauen in der Menopause. Mit dem Handgelenk fängt es häufig an“, sagte der Arzt unverfroren.

Nein, das hatte er gerade nicht gesagt. Ich wurde wütend. Operieren war hoffentlich eher seine Stärke als Kommunizieren. Fünfzig ist das neue vierzig! Ich bin sportlich, schlank und faltenfrei. Was beabsichtigt Dr. Schnösel mir zu vermitteln? Dieser Jüngling, hatte der überhaupt schon gelernt, mit einem Stethoskop umzugehen geschweige denn mit einem Skalpell? Zumindest war er in der Lage ein Röntgenbild zu beurteilen.

In meiner Wut hätte ich fast den spektakulären Rest seiner Ausführungen verpasst.

„… ein komplizierter Bruch“. Das hieß, es war nötig, zu operieren, um eine Platte zur Verstärkung einzusetzen, die dann nach zwölf Monaten wieder entfernt wird. Mein Puls schnellte abermals hoch. Wie, ich hatte ein Jahr lang etwas davon? Dr. Schnösel war nicht in der Lage den Arm schnell in Ordnung zu bringen. Zack, Gipsbinde einweichen, drum wickeln und fertig. In sechs Wochen entfernen und der Arm ist wie neu.

Ich buchte somit das ganze Programm: an meinem Geburtstag, mit Narkose, mit Schmerzmittel und einer Metallplatte von der Krankenkasse. Gelungene Geschenke sehen anders aus.

Der Arm wurde bis zum darauf folgenden Tag in eine Gipsschale gelegt. Ich fuhr mit dem Abholservice kurz nach Hause, um meine Tasche zu packen. Außerdem war es nötig, die vorgekochte Käsesuppe unterzubringen und die Gäste für den kommenden Tag auszuladen.

Mit folgenden Worten sagte ich allen ab: „Ich nehme mir morgen ein Zimmer mit Vollpension im hiesigen Hospital, dazu buche ich eine Vollnarkose und im Anschluss genehmige ich mir den Schmerzcocktail des Vergessens“. Ich neige zum Sarkasmus, wenn ich sauer bin.

Der Unfall war überflüssig. Im Nachhinein bin ich die Situation noch hunderte Male durchgegangen. Hätte nicht sein müssen!

Hätte, hätte Fahrradkette! Das ärgerte mich wahnsinnig. Eine falsche Reaktion trotz jahrelanger Erfahrungen.

Am anderen Morgen war ich die Erste im Operationsraum. Das OP-Team hatte mein Geburtsdatum gelesen und gratulierte mir zum Geburtstag. Das lockerte die ganze Sache kurz auf, bis der Mann mit der Maske kam. Am Nachmittag wachte ich auf und hatte dolle Schmerzen. Dann gab es den Cocktail in Form einer Infusion ohne zweiundfünfzig Lichter auf dem Schlauch. Ein berauschendes Ende nach vierzig Jahren. Ich verdrückte kurz ein paar Tränen, weil ich mir so leidtat, und duselte ein. In diesem Moment sah ich nicht das Glück im Unglück, denn der Unfall war relativ harmlos. Nur ein kaputtes Handgelenk, welches sich wieder reparieren ließ.

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Der gestrige Morgen fing schon anders an. Ich fuhr alleine aufs Land. Normalerweise begleitete mich eine Freundin mit ihrer Tochter.

Ich schloss mich den beiden vor kurzem an, um eine Alternative zu meinem bisherigen Hobby auszuprobieren. Eine andere Herausforderung. Das Altbekannte stagnierte. War das schon eine Midlifecrisis? Etwas Neues, Grenzen austesten sogar überschreiten? Dann wäre ich zum Bouldern oder Segelfliegen gewechselt. Ich liebte mein Hobby über alles.

Ich hatte schon vor beim Reiten zu bleiben. Es gibt ja verschiedenen Möglichkeiten. Dressurreiten, Springen, Westernreiten um einen Teil zu nennen. Die Grundlagen sind gleich, die Tiere ebenfalls. Sie gehören alle zur Gattung Equus. Für mich war es trotzdem Neuland. Die Islandponys sind kleiner aber dafür doppelt so schnell in ihrer Bewegung wie die Großpferde. Vorher ritt ich Dressurpferde, jetzt war ich beim Tölten und Rennpass mit Islandponys auf einer Rennbahn mit Geschwindigkeiten unter dem Radar. Mit einem Tagesausritt von fünf Stunden hatte ich meine Grenzen ausgetestet. Der Körper hatte damals nicht aufgeschrien und für mich war es eine Bestätigung, dass ich es noch drauf hatte. Hört sich im Nachhinein sehr nach Midlifecrisis an. Dann hatte ich dieses Pony mit dem fürchterlichen Schwung im Rücken und es war vorbei. Ich lag im Sand und das Pony sah zu, dass es von mir wegkam. Nix mit „treuer Begleiter“ oder „ich hol mal eben Hilfe Frauchen“, wie bei Fury oder Black Beauty. Das ist nur im Fernsehen, so schlau sind die nicht. Die Frage blieb im Raum stehen: „Bin ich doch zu alt dafür?“

Es wurde Zeit aufzuhören, denn ich hatte geschworen, sobald ich mir die Knochen breche ist Schluss mit dem Reiten.

Ich erinnere mich genau, wie ich im Alter von zwölf Jahren jeden Abend im Bett betete, so lange bis der Wunsch dann endlich von meinen Eltern erhört wurde, die ich ebenfalls täglich zusätzlich anbettelte. Doppelt hält besser!

Lieber Gott, bitte, bitte, mach was, damit meine Eltern mir das Reiten erlauben. Ich bin super, super vorsichtig. Wenn ich mir etwas breche, höre ich sofort auf. Versprochen ist versprochen und wird nicht gebrochen“.           

Ich hatte Ausdauer, weil es mir total wichtig war. Meine Eltern hatten Bedenken, da der Sport mit großen Risiken verbunden war.                      Ein bedeutendes Versprechen. Ob es Vorteile gebracht hätte, vorher eine Versicherung oder einen Anwalt zu Rate zu ziehen, um das fehlende Kleingedruckte einzufügen? Nein! Ich war zu jung für raffinierte Verträge. Ich liebte Pferde über alles wie viele kleine Mädchen.

Ich bin dankbar, dass mein Schutzengel in den letzten vierzig Jahren durchaus kompetent war. Ich gebe ihm eine Eins!

Nö, nach dem Unfall bekommt er eher eine Eins minus.

 

„Alles endet irgendwann.

Ist es wirklich besser, etwas erst gar nicht zu beginnen,

nur weil man Angst davor hat,

es irgendwann wieder zu verlieren?“

Wolfgang Hohlbein                                                          V3