Von Marti Stegemann

Die marode Tür knarzte. Mit matschigen Schuhen trat ich ein und der kalte Wind kam hinterher. Köpfe drehten sich um und lugten hinter Ecken hervor.

Mit gesenktem Blick durchquerte ich den Raum und ließ meinen Augen über die Anwesenden huschen. Viele waren bewaffnet, doch keiner sah aus, als könnte er sie wirklich benutzen. Niemand außer einer Person. In einer Ecke saß ein Mann mittlerer Statur, den eigentlich nicht viel von den anderen unterschied. Doch sein Blick sah nach Krieg aus wie auch seine Axt.

Eine Weile beobachtete ich ihn, bis ich den Mut hatte, ihn anzusprechen. Nach meinem dritten Schnapsglas war dieser Moment gekommen. Er schien in Ruhe sein Bier zu trinken und beobachtete aufmerksam den Raum, weshalb er mich von Beginn an im Blick hatte. Er zeigte keine Regung, als ich mich an seinen Tisch setzte.

„Ähh… guten Abend, mein Herr. Mein Name ist Arko und ich suche einen Krieger, der eine… eine Bestie für mich erlegen kann.“ Sein Blick fixierte mich.

Ich wartete auf eine Reaktion, doch als die Stille zwischen uns beiden unerträglich wurde, ergriff ich wieder das Wort: „Mein Herr, es wartet jeden Tag am Grab meiner Frau auf mich… Es… die Bestie… meine Frau hat das nicht verdient.“ Ich schluckte. „Ich konnte sie im Leben nicht beschützen, bitte helft mir wenigstens im Tode über sie zu wachen!“ Den Mann schien es nicht zu kümmern, denn noch immer suchte sein Blick etwas in meinen Augen.

„Wie sieht es aus?“, knurrte er.

Voller Hoffnung beugte ich mich vor. „Es… es hat einen weißen Schädel… mit Dornen, die daraus hervorragen. Alles war voller Raben. E… es ist dunkel im Wald und sobald ich in die Nähe des Turmes komme, geht es auf mich los. Der ganze Wald geht auf mich los…“

„Und es verfolgte Sie nicht?“

„Ich rannte um mein Leben und als ich zurückblickte, war dort nichts mehr zu sehen. An den nächsten Tagen war es dasselbe.“ Allein der Gedanke ließ meine Hände nass vor Schweiß werden und mein Herz begann zu rasen. „Können Sie mir helfen? Ich bin kein wohlhabender Mann, doch zahle ich Ihnen alles, was ich geben kann. Bitte vertreiben Sie diese Bestie, meine… meine Frau hat ihre Ruhe verdient.“

Die kalte Luft begleitete mich den ganzen Weg zurück, bis vor die Türschwelle und leider auch hinein. Ich konnte dem Fremden, der sich auf der Reise als Albert vorstellte, keine warme Unterkunft bieten, doch versuchte ich ihn so gut es ging mit Speis und Trank zu versorgen. Meinen Selbstgebrannten jedoch behielt ich für mich, all diese Aufregung ließ meine Hände wieder zittern.

Mich wunderte, dass er keine Gegenleistung haben wollte, doch war ich zu erleichtert, als dass ich nach dem Grund dafür fragen wollte.

Er war ein seltsamer Mann. Den ganzen Weg über spürte ich seinen Blick auf meinem Hinterkopf, als ob er noch immer nach einem Weg suchte, durch meinen Schädel in mein Hirn zu schauen. Dabei sprach er nur, um Informationen zu erhalten, an die er mit seinem Blick allein nicht kam. Am nächsten Tag war es dasselbe. Beim Frühstück schwieg er vor sich hin und sah mich mit seinem durchdringenden Blick an.

„Wissen Sie, meine Frau hat den Winter geliebt.“, sagte ich mit einem Blick durch die löchrigen Fensterläden. „Selbst an Tagen wie heute war sie die ganze Zeit draußen und fror jeden Abend so sehr, dass ich ständig neues Feuerholz holen musste. Einmal passte ich nicht auf und das Beil fraß sich in mein Schienbein.“ Gedankenverloren strich ich über die noch immer schmerzende Stelle. „Und obwohl sie sich so lieb um mich gekümmert hat, fand sie noch immer Zeit, die sie draußen verbrachte.“

Nach dem Frühstück bereitete er sich vor und inspizierte seine Waffen. Ich zeigte ihm, in welcher Richtung der Turm stand, und schon brach er auf. So sehr ich mir auch wünschte, er würde siegreich zurückkehren, so sehr hoffte ich, diesen sonderbaren Mann nie wiedersehen zu müssen.

Der Krieger und der Turm

Schon nach kurzem Marsch sah ich den Turm. Arkos Beschreibung führte mich schnell an mein Ziel. Erbaut aus grauen und weißen Steinen, mit einem spitzen Dach, doch schon in die Jahre gekommen und in armseligen Zustand ragte er aus dem Wald hervor.

Mit jedem Schritt ging ich langsamer und schlich durch das immer dichter werdende Gestrüpp. Sicherheitshalber löste ich den Lederriemen an meiner Axt.

Das Krächzen von Raben wurde immer lauter und ich wusste, ich war dem Turm bereits sehr nahe. Ein weißes Schimmern zeigte sich durch das Unterholz, bis ich plötzlich auf einer Lichtung war. Dort schaute mich ein weißer länglicher Schädel an, aus dem unerträglich lange Dornen sprossen. Sie bildeten ein Geweih, auf dem sich massenhaft Raben niedergelassen hatten. Lange Arme, die aus dicken Ästen bestanden, wanden sich bis zum Boden und stützten den Körper. Insgesamt war das Wesen bestimmt zwei Klafter hoch und überragte so selbst den größten Mann, doch machte es keinerlei Anstalten eines Angriffs. Nur der Schädel folgte ruhig meinen Bewegungen.

Unter einem lautstarken Konzert der Raben ging ich langsam auf den Turm zu und sah das Grab. Vorsichtig legte ich meine Hand an die Axt. Die Bestie schaute mir noch immer hinterher, selbst, als ich kurz vor dem Grab stand. Keine Inschrift war darauf zu erkennen, nur der Name Rune. Zornestränen füllten meine Augen und voller Wut riss ich meine Axt aus dem Gürtel.

Aus dem Augenwinkel merkte ich gerade noch rechtzeitig, dass es ein Fehler war. Die eben noch so ausgeglichene Bestie stürmte auf mich zu. Den Bruchteil einer Sekunde später erschütterte ein gewaltiger Arm den Boden und ich schaffte es erst im letzten Moment auszuweichen. Der zweite Arm rauschte sofort hinterher und dieses Mal traf er.

Pfeifend flog ich durch die Luft und prallte gegen einen Baum. Die Bestie gab noch immer nicht nach und ich wappnete mich für einen Gegenschlag. Weit über meinen Kopf erhob ich die Axt und ließ sie herabsausen, ein weißer Schädel als Ziel.

Der Krieger und der Ehemann

Die Sonne versank hinter den Baumkronen. Albert war noch immer nicht zurückgekehrt. Fast hatte ich das Gefühl, es war so besser für mich. Vielleicht sollte ich eine Söldnertruppe anfordern, doch hatte ich nicht das nötige Geld dafür.

Ich füllte gerade ein weiteres Glas, als plötzlich die Haustür aufsprang. Aufgeschreckt griff meine Hand automatisch nach der fast leeren Flasche neben mir. Damit deutete ich auf den möglichen Angreifer, der sich jedoch als Albert herausstellte.

„Ihr seid entkommen!“, entfuhr es mir, als ich die vielen Schnitte in seinem Gesicht und seiner Kleidung bemerkte. 

Wortlos trat er ein und warf mir einen dornenbesetzten weißen Schädel vor die Füße. 

„Ihr habt es geschafft!“

Plötzlich fiel er mich an und seine Hand schloss sich um meinen Hals wie ein Schraubstock. Er schnürte mir die Luft ab, doch hatte ich keine Chance gegen ihn.

„Deine Frau, wie ist sie gestorben?!“, knurrte er.

„Wa…“, würgte ich hervor.

„Sprich!“, seine Hand lockerte sich minimal.

„B… Banditen! Si… sie haben sie überfallen, a… als ich nicht hier war.“, keuchte ich.

„Bist du dir sicher?“

„J… ja. Am… am nächsten Morgen la… lag sie dort.“

„LÜGNER!“, schrie er und warf mich durch den Raum.

Albert schaute den Schädel der Bestie an und seine Stimme beruhigte sich ein wenig.

„Vor Kurzem erst endete Fürst Barnabas Feldzug und ich konnte nach Hause zurückkehren. Dort gab man mir Briefe, die an mich adressiert waren, sie kamen von meiner Schwester.“ Gedankenverloren starrte er noch immer den Schädel an und spielte an der Schneide seiner Axt herum. „Sie schrieb, dass ihr Mann ein Trinker ist. Regelmäßig schlug er sie. In den Briefen flehte sie mich an, sie zu holen und vor diesem Mann zu retten.“ Sein Blick schoss zu mir und bohrte sich in meinen Schädel.

Meine Sicht verschwamm vor meinen Augen. Wieder blieb mir die Luft weg, doch dieses Mal nicht, weil eine Hand meinen Hals zudrückte.

„Bitte!“, flehte ich unter Tränen. „Bitte! I… es war nicht meine Schuld! Der Alkohol holt diese Seite aus mir heraus! D… das bin nicht ich! Das war ein anderer Mann, der sie schlug!“ Ich japste nach Luft. „Eines… abends kam dieser Mann wieder hervor… er schlug und schlug sie und hörte nicht auf… Als ich am nächsten Tag erwachte, sah ich, was dieser Mensch angerichtet hatte. Alles war rot, meine Hände, der Boden, ihr… ihr Körper… Sie lag nur so da und ich konnte nichts tun…“

Ich schaute hoch und sah direkt in diese eindringlichen, bohrenden Augen. Er musste es von Anfang gewusst haben.

„Der Turm… sie war so gerne dort, als wir hierher gezogen sind… und dort musste ich sie vergraben… Bitte… ich wollte nicht, dass das passiert… doch ich war jeden Tag bei ihr. Ich stehe ihr im Tod bei, so wie ich es in ihrem Leben nie tat. Bitte, Herr, lasst mich noch einmal zu ihrem Grab und mich von ihr verabschieden. Ich will sie nur noch einmal sehen…“

„Du wirst nicht mehr zu ihrem Grab gehen.“ Albert sprach nun sehr ruhig, ich jedoch heulte los und flehte.

„Du hast kein Mitleid verdient… ich sollte dich hier und jetzt ausweiden.“ Ich brach zusammen und schluchzte. Es war klar, dies war das Ende. Anders hatte ich es auch nicht verdient, doch da es nun so weit war, wollte ich nichts anderes als raus aus dieser Hütte.

„Doch das werde ich nicht tun. Ich habe kein Recht auf Rache an dir, wie widerlich du auch sein magst.“ Voller Überraschung schaute ich auf. Er schloss den Lederriemen um seine Axt und drehte sich Richtung Tür. Das erste Mal, seit er hereinkam, schöpfte ich wieder Hoffnung.

Albert machte gerade einen Schritt heraus, da sagte er: „Aber Rune schon.“, und verließ die Hütte.

Ich sah seine Figur in der Dunkelheit verschwinden und auch seine Schritte wurden leiser. War das ein Trick? Kam er mit dem Scharfrichter wieder? Verwirrt ging ich zur Tür. Es war wirklich keine Spur mehr von ihm zu sehen.

Hektisch drehte ich mich um und erschrak auf der Stelle. Der Schädel, der gerade noch auf dem Boden lag, hing in der Luft, gestützt von Wurzeln. Auf einmal wanden sich Äste aus dem Schädel und hinter mir aus dem Wald erklang das Lied unzähliger Raben. Die Bestie erhob sich und kam langsam auf mich zu.