Von Maria Monte

Gewachsen und gebrochen

Die Freundin sitzt an ihrer Seite, hält ihre Hand. Sie hält die Hand wie Rudi, als seine noch warm war. Beide schweigen, in sich gekehrt. Nun ist auch diese Epoche zu Ende. Die Freundin hat sie alle miterlebt. Sie erinnert sich: Mit Rudis Liebe sind ihrer Freundin Renate Flügel gewachsen. Sie hatte wieder Elan und Kraft, Mut für die Zukunft. Nach der ersten Trennung stand Renate mit ihren drei Kindern alleine da. Damals war sie einfach zu unerfahren und zu jung, vielleicht auch, weil sie ohne Vater aufgewachsen war. Sie gab zu, es allen recht machen zu wollen, zu gutmütig und gutgläubig zu sein.

Der zweite Mann nutzte diese Schwäche wiederum aus, nach den ersten Schmetterlingen im Bauch folgten Krähen und Wackersteine. Die beiden passten einfach von der sozialen Ebene nicht zueinander. Die Freundin erinnert sich an gemeinsame Unternehmungen, die ihnen lieb und wichtig waren. Der Mann störte und stänkerte. Und dann räumte er Renates Wohnung aus, in die er absolut nichts eingebracht hatte. Ein Racheakt gegen die einstige Geliebte, die nun nicht mehr alles für ihn tun wollte. Die Trennung von diesem Partner fiel fast zeitgleich mit dem Auszug der Jüngsten ihrer drei Kinder. Inzwischen hatte der Älteste eine Familie gegründet und nie mehr die Nähe der Mutter gesucht. Der Lieblingssohn nahm sich das Leben, hinterließ eine kleine Tochter und viele Fragezeichen. „Was habe ich alles falsch gemacht? Liegt es an mir, dass sich so vieles gegen mich wendet?“ Renate wurde krank, seelisch und körperlich. Und trotzdem kämpfte sie weiter, hatte ja noch eine Mutter und die Tochter, die inzwischen geheiratet und eine Familie hatte. Zwar über 600 km weg, aber durch das Telefon, gegenseitige Besuche und Urlaube eine feste Säule in ihrem Leben darstellte.

Renate war an all diesen Erlebnissen und Erfahrungen gewachsen. Sie ließ sich nicht mehr so einfach die Butter vom Brot nehmen. Die Freundin bewunderte ihren Stoizismus. Und nun, nach gemeinsamen 25 Jahren, lag hier der dritte und beste Mann und ließ Renate allein. Das hatte sie wirklich nicht verdient. Ob ihre Kräfte ausreichen würden?

***

„Mahlzeit!“ Renate schaut kurz von ihrem Teller hoch, nickt und erwidert den Gruß. Nach dem Leeren der Teller folgt ein kurzer Smalltalk. „Sie sind neu hier bei uns? In welcher Abteilung arbeiten Sie?“ Die neue Kollegin outet sich und befragt ihr Gegenüber ebenso. „Sehen wir uns morgen zur gleichen Zeit hier wieder?“, hofft Rudi und bekommt ein Nicken und ein „Warum nicht? Gerne!“ als Antwort. Renate ist inzwischen 50 Jahre alt, hat drei Kinder zur Welt gebracht, war zweimal verheiratet und hat bereits in verschiedenen Institutionen gearbeitet. Hierher, in diese Behörde, wurde sie zwangsversetzt. Ihre alte Arbeitsstelle wurde aufgelöst. Nun muss sie täglich 15 km in die nächste Kleinstadt zur Arbeit fahren. Die neue Stelle hier fordert sie und ihr Organisationstalent noch einmal kräftig heraus. Sie bemerkt, dass sie sich auf ihre Aufgaben und neuerdings auch auf Rudi freut. Hallo, das ist doch mal ein Mann nach meinem Geschmack! Gutaussehend, sportlich, gepflegt und mit Umgangsformen, die ich so endlos lange vermisst habe. Sollte ich vorsichtig sein oder meinen Gefühlen freien Lauf lassen? Ach Quatsch, in meinem Alter hat man nicht mehr viel Zeit für lange Zierereien. Er gefällt mir, macht mich neugierig auf mehr. Da ist dieser berühmte Funke übergesprungen, sie merkt es an Rudis Bemühungen. Er sucht ihre Nähe. Dieses Kribbeln im Bauch hatte ich wohl so noch nie. Und es kribbelt auch auf der Haut, Gänsehaut pur, wenn er mich mit seinen blauen Augen anschaut. Er hört mir zu, nein, er lauscht meinen Ausführungen, meinen Worten, als wenn ich einem Kind Märchen erzählen würde. Er ist so aufmerksam! Seine Ausstrahlung erfasst mich immer neu. Ob die Kolleginnen was merken? Ich habe wieder Farbe im Gesicht und ein Leuchten, das von innen kommt. Ob es ihm auch so geht? Gestern hat er ihr einen Blumenstrauß auf ihren Schreibtisch gestellt und nach einem Date gefragt. Nun fiebert Renate ihrem Treffen wie ein Teenager entgegen. Ob er meine Hand nimmt und ich kann endlich seine Haut spüren? Wie verliebt ich bin! Ihr gemeinsamer Konzertbesuch endet nicht im Cafe´ nebenan. Rudi ergreift seine Chance, diese Frau festzuhalten. Er fühlt sich wieder jung und attraktiv, hatte lange nicht mehr diese Empfindungen. Renate und Rudi werden ein Paar. Beiden bekommt die neue Zweisamkeit ausgezeichnet, sagen auch die Freunde und Kollegen. „Was hindert uns, unsere Haushalte zusammenzulegen und zu heiraten?“, hinterfragt Renate an einem Kuschelabend am Kamin von Rudis noch nicht ganz fertiggestellten Haus. Der Geliebte bejaht glücklich. „Eine gute Idee, dann haben wir beide einen gemeinsamen Arbeitsweg. Wir können endlich gemeinsam das Haus so ausbauen, dass es uns beiden gefällt. Und wir brauchen uns nicht mehr zu trennen, keine Abschiede und Ungewissheiten mehr.“

Die Sportfreunde im Judoverband, in dem Rudi als Trainer ehrenamtlich tätig ist, begrüßen Renate in ihrer Mitte herzlich. Sie bringt sich gerne mit ein, kocht und backt für sie. Mit den Hochseeanglern, den Freunden von Rudi aus dem Angelverband, fährt sie sogar zu den Olympiaden und Wettkämpfen mit. Sie freuen sich, dass ihr langjähriger Sportfreund endlich wieder eine passende Frau gefunden hat. Eine Frau, die anpackt, die nicht lange zögert, die kein Püppchen ist. Mein Rudi, ich bin so stolz auf ihn. Was der alles kann! Und alle seine Freunde sind einfach umwerfend, sie akzeptieren mich und zeigen Anerkennung. Mein Leben hat plötzlich wieder Fahrt aufgenommen. Es ist so bunt, so aufregend, so erfüllend.

Rudi trägt seine Renate wirklich auf Händen. Er ist charmant, tanzt wie ein junger Gott, kann herrlich Witze und Anekdoten erzählen.

***

„Sag mal, Rudi, du fragst mich so oft das gleiche. Du vergisst, was wir besprochen haben, erinnerst dich nicht mehr an Dinge, die gestern waren. Wollen wir nicht besser mal einen Neurologen aufsuchen?“

Ich habe Angst. Plötzlich verändert sich mein Rudi. Sein Interesse an unseren Gemeinsamkeiten wird geringer. Er nimmt ab, auch sein sexuelles Interesse.

Nach gemeinsamen zwanzig glücklichen, erfüllten Jahren muss sich Renate wieder in eine neue Lebenssituation hineinfinden. Rudi möchte nicht mehr reisen, keine Freunde mehr besuchen, keine Spaziergänge mehr unternehmen. Er zieht sich immer mehr in ihr Haus zurück und klammert sich an seine Renate.

Seine Liebe hält mich. Er sucht meine Nähe, streichelt mich, nachts schlafen wir händchenhaltend ein. Rudi ist der Mann meines Lebens. Nie zuvor war ich so glücklich, so zufrieden, so begehrt. Wir hatten so schöne gemeinsame Jahre, ich kann ihn nicht in ein Heim weggeben. Ich schaffe auch diese Herausforderung.

 

Maria Monte

Zeichen: 6746

Variante 2