Von Agnes Decker

Scheiße. Alles. Verdammt. Louisa, ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es tut mir so leid. Könnte ich die Zeit zurückdrehen, ich würde es sofort tun. Noch einmal von vorne anfangen. Mit dir. Aber das geht nicht. Und, selbst wenn ich es könnte, würde es nichts mehr nützen. Die Zeit läuft gegen uns. Ordnet sich dieser verdammten Diagnose unter, tickt viel zu schnell vor sich hin. Schon wieder ein neuer Tag. Einer weniger für dich. Für uns.

Warum ich es dir nicht gesagt habe? Vielleicht, weil ich es erst spüren konnte, als ich ging. Der Abschied öffnet die Herzen, reißt die Mauern ein. Für einen Moment nur. Vielleicht ist es so, dass man es dann nicht mehr leben kann oder muss, das, was der Abschied freilässt. So viele „vielleicht“ und „weiß nicht“ würdest du sagen. Und: „So viel Unsicherheit hast du in dir, du, die Strukturierte, die Analystin.“

Herz über Kopf, weißt du noch, wie häufig wir gelacht haben, wenn du für einen Moment die Oberhand hattest. Ich mich fast hätte fallen lassen. Bin jedes Mal zurückgeschnellt, wie ein Bumerang, der nur eben mal einen Bogen gedreht hat.

Ich vermisse dich so sehr. Weißt du eigentlich, dass ich dich immer vermisst habe, sogar dann, wenn wir zusammen waren? Das ist verrückt, nicht wahr. Wie kann man jemanden vermissen, der da ist, greifbar, neben einem am Tisch sitzt? Und trotzdem war es so. Eine Sehnsucht, die weh getan hat. Stiche. In der Herzgegend. Eine Sehnsucht, nach dem, was tief in mir drin schon lange Wahrheit war, verborgen hinter dieser Mauer.

Jetzt würde ich dich gerne in den Arm nehmen. Deine Zartheit spüren, deine Wärme. Spüren, wie du dich anschmiegst, den Kopf an meine Schulter lehnst. Spüren, wie sich unsere Körper ergänzen, als wären sie bisher unvollständig gewesen. Würde dir über dein Haar streichen, vom Scheitel bis weit über den Rücken hinunter. Die Augen schließen. Ankommen. Dahin, wo ich gehöre.

Dann komm doch, würdest du sagen. Und komm schnell, ich habe nicht mehr viel Zeit. Als ob es so einfach wäre. Den Koffer packen, ins Flugzeug steigen. Aber, du hast recht. Es ist machbar. Ob ich es kann? Ob ich es schaffe, alles hier hinter mir zu lassen? Die Freiheit, die Herausforderungen, die das fremde Land mir bietet. Ob ich es fertig bringe, meine Familie zu enttäuschen, die Blicke aushalte, wenn ich Hand in Hand mit dir durch die Straßen gehe, die Angst vor Gewalt? In Köln geht das, sagtest du,  hier gibt es viele, die so sind wie wir. Wolltest mir Mut machen. Dabei liegt mir die Feigheit mehr. Ist mir vertrauter. Wenn ich uns beide in meinen Gedanken und Träumen lebe und die Sehnsucht zurückbleibt. Mit all der Traurigkeit und Kreativität.

„Wichtiger, als geliebt zu werden, ist es, lieben zu können“, sagtest du nachdem du mir mal wieder vorgeworfen hattest, ich wäre die „Nehmerin“ in unserer Freundschaft. Du hättest es satt. Du würdest dich leer fühlen. Es käme nicht genug zurück.

Das habe ich nie vergessen. Siehst du, Louisa, ich habe dir zugehört, auch wenn du behauptest, ich wäre nur mit mir beschäftigt. Habe mich selber gefragt, ob ich in der Lage bin, zu lieben. Da wusste ich noch nicht, dass ich es längst tue. So viele Jahre, die ich dir hätte mehr sein können als die beste Freundin. Und jetzt, wo ich es dir sagen könnte, bin ich weit weg.

Weiß auch nicht, ob es richtig ist, Sinn macht, etwas so Großes zu beginnen, wenn es bald zu Ende geht. Ja, ich weiß, ich darf so nicht denken, soll den Kopf ausschalten und hören, was mein Herz meint. Aber mein Herz schweigt. Es klopft vor sich hin, im immer gleichen Rhythmus: Zu spät, zu spät. Vielleicht schaffe ich es, zurückzukommen und das zu tun, was richtig wäre, bei dir zu sein in dieser schweren Zeit, deine Hand zu halten, bis du gehst.  Als deine Lebenspartnerin und Freundin.

In meinem Kopf dreht sich alles. Ich spüre, wie sich die Mauer wieder schließt. Ich weiß noch nicht mal, ob ich diesen Brief jemals abschicken werde, in dem ich dir das sage, was du dir seit langer Zeit von mir wünschst.

Ich liebe dich, Louisa

Deine Carla

 

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