Von Volker Liebelt

Clara war gerade sechzehn Jahre alt und lebte in einer verschlafenen Kleinstadt, in der es eine Buchhandlung gab – „Die Leseratte“. Sie war der Lieblingsort vieler Bewohner, die sich dort in die Welt der Bücher entführen ließen. Ein Ort der Gemütlichkeit, ein Refugium für Literaturbegeisterte, voller Regalen mit Geschichten, die nur darauf warteten, entdeckt zu werden. Clara verbrachte häufig ihre Nachmittage hier, immer auf der Suche nach neuen Abenteuern und Welten, die sie in ihren Bann ziehen konnten. 

An diesem Tag jedoch sollte sich etwas ereignen, das ihr Leben für immer verändern würde. In der Ecke der Buchhandlung, in der sich die Fantasy-Welten entfalteten, traf sie einen jungen Mann. Er hatte dunkles, geheimnisvolles Haar, das seine Züge in ein Rätsel tauchte, und Augen, so grün wie das saftigste Blatt im Frühling. Doch das Außergewöhnlichste an ihm war nicht seine Erscheinung, sondern das Buch, das er in seinen Händen hielt – „Der Herr der Ringe“.

„Oh, entschuldige, bitte“, sagte der junge Mann, nachdem er sie versehentlich angerempelt hatte. Seine Stimme klang weich, fast wie ein leises Wiegenlied in der Nacht. „Ich habe dich gar nicht gesehen.“ 

„Kein Problem“, sagte Clara schüchtern, ihr Herz pochte schneller in ihrer Brust. „Ich bin Clara.“ 

„Freut mich, Clara“, stellte er sich mit einem Lächeln vor, das sein Gesicht erhellte. „Ich bin Markus. Bist du auch ein Fan von Tolkien?“ 

Claras Augen leuchteten vor Begeisterung. „Ja, wirklich. Ich liebe seine Geschichten.“ 

„Ich auch“, sagte Markus. „Was liest du denn sonst noch so?“ 

Clara spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg. Sie hatte nie zuvor einen so netten jungen Mann getroffen, der ihre Leidenschaft für Bücher teilte.

Die beiden unterhielten sich wie alte Freunde, die sich nach einer langen Zeit wiedergefunden hatten. Die Worte flossen leicht und ungezwungen zwischen ihnen, und die Zeit verstrich unbemerkt, wie in einem verträumten Kapitel eines Romans. Als die Buchhandlung schließlich ihre Türen schloss und die Welt draußen in Dunkelheit gehüllt wurde, fanden sie sich noch immer in einem Gespräch vertieft vor der Tür wieder. Die Geschichte von Clara und Markus begann, sich in einem mysteriösen Gewebe aus Worten und Emotionen zu entfalten.

Nach ihrem Besuch in der Buchhandlung schlenderten Clara und Markus durch die stillen Straßen der Stadt. An diesem herbstlichen Abend warf das warme Licht der Straßenlaternen ihre sanften Schatten auf den Bürgersteig.

Das Café, zu dem sie schließlich gelangten, strahlte eine behagliche Atmosphäre aus. Die roten Samtsofas luden zum Verweilen ein, und bunte Kissen sorgten für eine verspielte Note. An den Wänden hingen stolz gerahmte Porträts berühmter Schriftsteller und Dichter, die die Räume mit einem Hauch von literarischer Geschichte erfüllten.

In diesem gemütlichen Ambiente, eine dampfende Tasse Kaffee in den Händen, öffnete Markus vorsichtig ein kleines Notizbuch und begann, leise und gefühlvoll Worte zu lesen:

„In deinen Augen fand ich ein Universum, unendlich weit,

ein Ozean aus Gedanken, in dem die Zeit verweilt.

Wir wanderten durch Seiten von Geschichten und Meer,

In der Buchhandlung fanden wir ein Plätzchen, so himmlisch und hehr.“

Clara lauschte seinen Worten und fühlte, wie sich ihr Herz vor Rührung erwärmte. „Das ist wunderschön“, flüsterte sie, ihre Augen auf seine gerichtet. „Du hast ein großes Talent.“

Markus errötete, und sein Lächeln füllte den Raum. „Danke“, sagte er. „Du bist meine Inspiration.“

In einem Augenblick des Mutes beugte er sich vor und küsste sie zart auf die Lippen. Clara erwiderte den Kuss, und für einen magischen Moment schien die Welt zu verblassen. Die Geräusche der Stadt, die Menschen um sie herum – all das verschwand, und es gab nur noch sie beide, vereint in diesem poetischen Augenblick, der so unwirklich war wie die Geschichten, die sie so sehr liebten.

Von diesem Tag an waren die beiden unzertrennlich. Sie nutzten die Wochenenden für ausgedehnte Spaziergänge durch die malerische Kleinstadt, entlang des Flussufers und durch den angrenzenden Wald. Die Zeit flog dahin, und mit jedem gemeinsam verbrachten Tag wuchs ihre Liebe zu einem unzerbrechlichen Band heran.

Clara und Markus machten sich auf und reisten um die Welt, immer auf der Suche nach neuen Horizonten und Erfahrungen. Sie entdeckten fremde Länder und Kulturen, die sie mit ihrer Schönheit und Vielfalt begeisterten. Es begann in Paris, der Stadt der Liebe, wo sie Hand in Hand entlang der Seine spazierten und sich in den Straßen von Montmartre verloren.

Markus, von der romantischen Atmosphäre der Stadt inspiriert, schrieb Gedichte, die er Clara widmete, während sie unter dem Eiffelturm saßen und den funkelnden Lichtern zusahen. Er nannte sie seine Rose und sagte ihr, wie sehr er sie liebte. Clara nannte ihn ihren Poeten und küsste ihn leidenschaftlich, als Antwort auf seine Worte.

Doch wie das Schicksal es manchmal will, wandelte sich alles im Laufe der Zeit. Die anfangs leidenschaftliche und aufregende Beziehung zwischen Clara und Markus, die wie ein wilder, stürmischer Ozean gewesen war, wurde nach und nach von den ruhigeren Gewässern des Alltags ersetzt. 

Eines Tages kam Clara von einer langen Reise nach Hause zurück und fand Markus in seinem Arbeitszimmer vor. Er war so versunken in seine Schreibarbeit, dass er sie kaum begrüßte. Clara fühlte sich vernachlässigt und verletzt. In einem Moment der Frustration platzte es aus ihr heraus:

„Markus, ich kann so nicht weitermachen. Du bist nur noch mit deinen Gedichten beschäftigt. Du hast keine Zeit mehr für mich.“

Markus sah sie genervt an und erwiderte: „Clara, du übertreibst. Ich arbeite hart für unsere Zukunft. Du solltest mich unterstützen, statt mich zu kritisieren.“

Clara seufzte und erklärte: „Ich unterstütze dich ja, aber ich vermisse deine Unterstützung. Du bist mein Partner, nicht nur mein Mitbewohner. Ich brauche deine Liebe, nicht nur deine Gedichte.“

Die Spannungen zwischen ihnen steigerten sich weiter, und sie führten einen schmerzhaften Dialog, in dem sie ihre Unzufriedenheit und Entfremdung zum Ausdruck brachten. Die Worte, die sie austauschten, waren wie scharfe Messer, die die Verbindung zwischen ihnen durchschnitten und die Flammen der einstigen Leidenschaft erloschen langsam. Zweifel und Unsicherheit traten an deren Stelle.

Die Worte, die sie nicht sagten, schwebten wie Nebelschleier in der Luft. Der Abgrund zwischen ihnen schien unüberbrückbar zu wachsen, und das, was einst so lebendig war, verwandelte sich in eine einsame Leere. Und so nahm ihre Geschichte eine Wendung, die von Zweifeln, Entfremdung und der Suche nach Antworten geprägt war.

In diesem bitteren Moment wurde ihnen beiden klar, dass ihre Liebe nicht mehr das war, was sie einmal gewesen war. Trotz all ihrer Bemühungen und des tiefen Wunsches, ihre Liebe zu retten, fühlten sich Clara und Markus machtlos. Die Zeit und die Herausforderungen des Lebens hatten ihre Beziehung verändert. Sie wussten, dass es an der Zeit war, loszulassen und neue Wege zu gehen. Sie umarmten sich zum letzten Mal und spürten die Wärme und Vertrautheit des anderen. Dann ließen sie sich los und gingen getrennte Wege. 

Clara fand nach der Trennung Trost in ihrer Fotografie. Sie war glücklich mit ihrem Leben, doch manchmal, wenn sie allein in einem fernen Land stand und den Sonnenuntergang über einem exotischen Horizont beobachtete, fühlte sie eine Sehnsucht, die sie nicht stillen konnte. In solchen Momenten öffnete sie sorgsam ihren Nachttisch und entnahm einen verblassten Brief, den Markus ihr einst geschrieben hatte. Die Worte auf dem Papier waren wie eine Zeitreise zurück in die Vergangenheit, eine Erinnerung an die Liebe, die sie einst geteilt hatten. Sie las seine Zeilen leise vor dem Einschlafen und ließ sich von den versunkenen Gefühlen in ihren Träumen umfangen. 

Markus hingegen hatte sich in Berlin niedergelassen, wo er seiner Leidenschaft für die Literatur und Poesie treu blieb. Dennoch konnte er die Leere in seinem Herzen nicht leugnen. Clara fehlte ihm, und manchmal überkam ihn ein Gefühl der Einsamkeit, das er nicht abschütteln konnte. In seinem Portemonnaie trug er stets ein Foto von ihr bei sich, ein Bild, das sie gemeinsam in glücklicheren Zeiten zeigte. Wenn er in Momenten der Inspiration nach einem Anker suchte, sah er es an und erinnerte sich an die Zeit, in der sie gemeinsam geträumt hatten.

Eines Tages bekam Markus einen Anruf von einem Freund aus Paris. Die aufgeregte Stimme seines Freundes berichtete von einer kommenden Ausstellung von Claras Fotos, die in einer renommierten Galerie stattfinden sollte. Markus, der lange darüber nachgedacht hatte, beschloss schließlich, die Ausstellung zu besuchen. Es war eine Rückkehr in die Vergangenheit, in die Welt der Bilder, die einst Teil ihres gemeinsamen Lebens gewesen waren. 

Als Markus in der Galerie ankam, war er von der Qualität der Fotos begeistert. Jedes Bild zeigte Claras unverwechselbare künstlerische Handschrift und zeugte von ihrem Talent, die Schönheit der Welt einzufangen. Er sah viele Bilder, die ihn tief beeindruckten und in seinen Gefühlen berührten. Gleichzeitig dachte er an Clara und fragte sich, wie es ihr wohl ging, was sie in all den Jahren erlebt hatte. 

Im letzten Raum der Ausstellung hing das größte und eindrucksvollste Bild. Es zeigte einen atemberaubenden Sonnenuntergang über dem Meer, auf dem zwei Menschen zu sehen waren, die sich liebevoll umarmten und zärtlich ansahen. Es war ein Foto von ihrer großen Liebe, das den Moment ihrer tiefsten Verbundenheit festhielt, einen Augenblick der Unvergänglichkeit. 

Markus konnte nicht verhindern, dass ihm beim Betrachten des Bildes die Tränen in die Augen stiegen. Er zog ein Taschentuch aus seiner Hosentasche und tupfte sie ab, während seine Gedanken in der Vergangenheit schweiften. Dann, als er sich umdrehte, erbleichte er. Clara stand direkt vor ihm. 

„Bleib bei mir“, sagte sie leise.

 

Version 2