Von Pia Hofbauer

Sommerende

Wir laufen durch die Straße. Die Gehsteige sind menschenleer und auf den Straßen fahren keine Autos mehr. Im Licht der Straßenlaternen kann ich unsere Atemwolken sehen. Die beiden Wolken verschmelzen zu einer großen, als wären wir nicht zwei Menschen, sondern eine einzige Person. Wir biegen in die nächste Gasse ein. Wir müssen uns nicht absprechen, müssen einander nicht deuten, was wir vorhaben. Wir wissen es schon. An der nächsten Hausecke bleiben wir stehen. Inja nimmt meine Hand, sieht mir in die Augen und dann müssen wir beide lachen. Ein Piepen mischt sich unter unsere Stimmen. Zuerst leise, dann immer eindringlicher.

Ich schlage die Augen auf, wälze mich auf die Seite und taste mit der Hand nach meinem Wecker, um ihn zum Schweigen zu bringen. Sechs Uhr.

Ich drehe mich wieder auf den Rücken und starre die Decke an. Ich kann Injas Lachen noch hören. Hell, klar und frei heraus. Ich spüre noch, wie sich ihre Finger mit meinen verschränken. Und dann wieder dieser Stich in der Brust.

Genug jetzt. Sie ist nicht mehr da und damit basta. Jetzt kann sie mir gestohlen bleiben. Keine Ahnung, warum ich überhaupt noch von ihr träume. Ich stehe auf, gehe ins Bad und lasse kaltes Wasser über meine Unterarme laufen. Auf dem Waschbecken liegen noch die Muscheln, die ich im Urlaub gesammelt habe. Wenn ich sie so ansehe, höre ich wieder das Meer rauschen, fühle den heißen Sand unter meinen nackten Füßen und habe den Geschmack von Zitroneneis im Mund. Ich lege die Muscheln in eine Dose und schraube den Deckel fest zu. Der Sommer ist vorbei. Und ich brauche nicht daran erinnert zu werden.

Ich schlurfe in die Küche, stelle Teewasser auf, leere Haferflocken in meine Frühstücksschüssel und gieße Milch darüber. Für Inja habe ich immer Joghurt gekauft. Aber jetzt ist mein Kühlschrank ziemlich leer. Ich sollte auf dem Weg zur Uni einen Abstecher in den Supermarkt machen.

Während ich den Tee aufgieße, fällt mein Blick auf ein Bild, das über der Küche an der Wand hängt. Zwei Mädchen auf einer Wiese mit Schmetterlingen und Löwenzahn. Ich reiße das Bild von der Wand, zerknülle es und werfe es in den Papiereimer. Das hätte ich schon früher tun sollen.

Ich frühstücke schnell, lasse das Geschirr in der Küche stehen. Bei den Tellern von gestern, die noch darauf warten, gewaschen zu werden. Auf dem Kleiderhaken im Vorzimmer hängt noch Injas oranger Pullover, den sie bei mir vergessen und noch immer nicht abgeholt hat. Ich habe ihr schon mehrmals geschrieben, aber sie antwortet nie. Ich nehme ihn vom Haken und lege ihn in die unterste Schublade meiner Kommode. Hinter den Ski-Anzug, den ich seit drei Jahren nicht mehr getragen habe. Ich werde den Pullover wegwerfen, gemeinsam mit dem Ski-Anzug. Oder verkaufen. Hauptsache, er verschwindet so bald wie möglich aus meinen Augen.

Ich verlasse die Wohnung. Draußen fährt mir der Herbstwind ins Gesicht. Ich fröstle. Es ist kälter als ich gedacht habe. Soll ich doch noch einmal zurück in die Wohnung gehen und mir einen Pullover holen? Ich schaue auf die Uhr. Nein, das würde mir zu viel Zeit kosten. Ich bin spät dran. Die Kastanienbäume in der Allee haben keine Blätter mehr. Durch die Wolken am Himmel dringen ein paar Sonnenstrahlen.

Das Laub unter meinen Füßen raschelt bei jedem Schritt. Ich kann Inja neben mir spüren. Wie sie im Gleichschritt neben mir hergeht und das Rascheln unserer Schritte zu einem einzigen verschmilzt. Ich wende ihr den Kopf zu. Aber sie ist nicht da. Wieder dieses Stechen in der Brust. Zwei Kinder laufen an mir vorbei, Hand in Hand. Sie kichern und werfen einander Kastanien zu und ich wünsche mir, ich könnte den Herbst auch genießen.

Im Supermarkt stehe ich lange vor dem Brotregal. Ich kann mich nicht entscheiden, ob ich lieber ein Baguette oder doch ein Mischbrot kaufen soll. Eine Dame mit oranger Jacke drängt sich an mir vorbei und greift nach dem Baguette. Ich nehme das Mischbrot und gehe weiter zum Obst.

Im Bus starre ich aus dem Fenster. Eigentlich sollte ich meine Vorlesungsunterlagen durchlesen, aber sie sind ganz unten in meinem Rucksack, unter meinen Einkäufen, und ich habe keine Lust, sie hervorzukramen. Ob Inja überhaupt noch an mich denkt? Wahrscheinlich nicht. Bestimmt studiert sie glücklich vor sich hin, holt sich ein Leistungsstipendium nach dem anderen und plant schon ihr zukünftiges Berufsleben. Ein Leben, in dem für mich kein Platz ist.

Meine Wangen werden ganz heiß. Mein Herz rast und ich kann nicht mehr still sitzen. Ich muss mich bewegen, springe auf, laufe zur Tür und steige aus. Dabei sind es noch mindestens vier Stationen bis zur Uni. Ich reiße mir den Rucksack vom Rücken und schleudere ihn auf den Boden. „Scheiße!“ Meine Finger zittern, ich balle sie zu einer Faust und schlage gegen den Baum, der neben der Haltestelle steht. Meine Knöchel bluten, aber es tut nicht weh. Ich spüre nichts, nur diese gewaltige Hitze in meinem Bauch, die ich nicht zügeln kann. Es ist einfach ungerecht, so ungerecht, dass sie ihr Leben weiterführen kann, dass sie glücklich sein kann. Aber ich hänge hier fest, von ihr bis in meine Träume verfolgt. Warum, verdammte Scheiße nochmal, kann sie nicht einfach aus meinem Leben verschwinden?

Da spüre ich etwas Warmes auf meiner Schulter. Eine Hand. Eine Stimme spricht zu mir. Ich schaue auf. Ein Gesicht. Braune Augen und ein Lächeln.