Steinbotschaften

Musste ich uns verstehen?

Als ich dich kennenlernte, lebtest du in einer Hütte am Waldsee grad außerhalb der Stadt, mit deinem Großvater. Ich hab dich nie gefragt, ob das eure offizielle Adresse war.

Als ich dich kennenlernte, standest du neben einem Stein im Park und schautest mich an aus Augen, die tiefere Welten kannten. Ich wollte dorthin tauchen.

Ich beobachtete, wie du vom Sofa zur Kochinsel zum Fenster tigertest. Vor dem Fenster breiteten sich Mehrfamilienhäuser, die Straßenbahnlinie 3 und ein paar Bäume nicht mehr als zwanzig Jahre alt aus. Deine Finger tasteten über das Fensterbrett und folgten unsichtbaren Ameisenpfaden. Unser Kater sprang aufs Fensterbrett und die Ameisenpfade deiner Finger verloren sich in seinem Fell. Deine Augen hingen an irgendwas draußen fest oder an etwas dahinter. Vielleicht dachtest du an deinen Großvater, der der letzte gewesen war, mit dem du Inuktitut hattest sprechen können. Die Kontakte zum Rest deiner Familie hattest du nie, und dein Großvater schrieb nie etwas auf. Das passierte wohl, wenn man dem Schicksal durch die Schatten folgte. Hatte dein Großvater seine Aufgabe erst mit seinem Tod vollendet, oder musstest du das tun? Ich glaubte, du wusstest die Antwort selbst nicht.

Wir lebten nach eineinhalb Jahren noch von meinem Forschungsstipendium. Du verschwandest du unterm Tag zwischen den zu Türmen aufgerichteten Steinen, mit deinem Husky im Schatten deiner Fersen. Er lag gerade vor meinen Füßen und schlief, doch auch in seinen Träumen wartete er auf das nächste Abenteuer. Auch wenn ich deine Welt einmal vor der Zerstörung bewahren wollte, ich konnte dir nicht folgen wie er es tat. Ein Stein blieb ein Stein, auch wenn er zu Botschaften aufgetürmt war.

Ich las den Vorwurf in deinen Händen, in deinem Blick, der mich nicht mehr fand. In den spärlichen Wipfeln draußen fing sich goldenes Licht, vermutlich war es das, was du sahst.

„Wollen wir in den Park gehen?“, fragte ich.

„Immer.“, sagtest du, mehr zur Birke als zu mir.

Wir stiegen in Stiefel, Jacken, noch musste man keine Mütze tragen.

Wir standen schließlich an der Ampel und endlich ließ ich los: „Was hat uns nochmal zusammengebracht?“

Du bliebst still und wir gingen über die Straße.

Du sagtest auf der anderen Seite: „Die Intensität des Moments, denke ich. Die Fäden sind zusammengelaufen.“

Die Intensität des Moments, meine Güte! Meine Seele wäre sicher auch entflammt, wenn ich dich in der Uni kennengelernt hätte. Aber du würdest dort nie hingehen.

„Magst du mich denn gar nicht?“, platzte ich endlich heraus, als wir den Park betraten. Die mystische Zeit hier hatte begonnen, es war zu kalt für die meisten Leute. So spiegelte der See den Himmel, ohne dass er Rufe und Lachen transportierte.

„Sandrine.“, sagtest du. „Du bist schon wieder so dramatisch. Es ist unsinnig. Du bist … so geerdet. Intelligent. Enschlossen.“

„Jaja, danke für die Rezension. Vier Sterne, können Sie weiterempfehlen, ja?“

„Wenn wir das Schicksal wieder umknüpfen müssen, auf jeden Fall.“, und da sahst du mich endlich wieder an, mit deinen warmen dunklen Augen. Fältchen ringförmig darum gebildet, deine Stimme sanft.

Ohne es zu wollen, fand ich mich in deiner Umarmung wieder und ein paar schwere Tränen tropften auf deine Schulter. Und ich beendete deinen Gedanken, der in mir vibrierte: „Aber du musst jetzt fort.“

Du nicktest, dein Bedauern trat offen zutage, eine Boje, die man vorher unter Wasser gedrückt hatte. „Du weißt, dass du immer einen Platz in mir haben wirst. Aber ich kann dein Leben nicht mit dir teilen, du nicht das meine, wir können über nichts mehr reden.“ Ich wollte dir den Mund zustopfen.

Aber du küsstest mich stattdessen, warme auf nassen Lippen. So standen wir da, Minuten. Der Husky an unsere Beinen gelehnt. Ein Seufzer leitete das Lösen ein, und du ließest mich los. Der Husky folgte dir, als du den Hügel hinaufgingst. Dort oben, wo sich die Bepflanzung des Parks in unübersichtliches Gebüsch auflöste, dort verschwandest du auch.

Ich wollte dir nachschreien, aber stattdessen stauten sich die Schluchzer in meiner Kehle.

Du würdest nicht zur Haushaltsauflösung zurückkommen. Dir ging es nie um Papiere, Besitztümer, du warst ohne gekommen und gingst ohne wieder. Du hattest es vermutlich nichtmal geplant zu gehen, heute, jetzt.

Ich ging zurück zur Wohnung. Vielleicht saß der Kater noch auf der Fensterbank.

Version 2