Von Franck Sezelli

 

Die kleine Wohnung in Halle-Neustadt hatten sich Sarah Finke und Lukas Schultze als schnuckeliges Liebesnest nach ihrem Geschmack eingerichtet. Obwohl sie sich erst in den Sommerferien kennengelernt hatten, waren sie sicher, für immer zusammenbleiben zu wollen. Es war die große Liebe. Die Zeit nach dem Studium malten sie sich gern als junges Ehepaar mit zwei niedlichen Kindern aus, um die sie alle beneiden würden.  

»Es ist wohl an der Zeit, dich endlich meiner Mutter vorzustellen. Was hältst du davon, Sarah?« Lukas schaute seine Freundin erwartungsvoll an.

»Den Gedanken hatte ich schon lange«, antwortete Sarah, »ich freue mich, deine Mutter kennenzulernen. Gern können wir auch zuerst nach Magdeburg zu meinen Eltern fahren.«

»Ich rufe meine Mutter an und sage ihr, dass ich am Sonntag zum Kaffee komme und dich mitbringe. Sie ist ja schon ganz neugierig auf dich.«

 

Am Sonntagabend in der S-Bahn von Leipzig zurück nach Halle meinte Sarah: »Deine Mutter ist sehr nett, ich mag sie und ich glaube, sie mag mich auch.«

»Du hast recht, meine Mutti merkt, was mir guttut. Ich hatte eine schöne Kindheit. Natürlich war es für sie nicht immer leicht. Schließlich hat sie mich ganz allein großgezogen.«

»Was ist eigentlich mit deinem Vater? Du hast nie von ihm erzählt.«

»Nein, ich kenne ihn gar nicht. Ich weiß nur, dass er Marco heißt. Er hat meine Mutter verlassen, als sie mit mir schwanger war. Das war auch der Grund, dass sie nie nach ihm gesucht hat, so hat sie es mir erzählt. Mit einem solchen Mann wollte sie nicht zusammenleben und sie wollte auch keinerlei Beziehung mehr mit ihm wie Unterhalt und so. Lieber hatte sie mich für sich allein.«

»Hat dir der Vater gefehlt im Leben?«

»Das kann ich gar nicht sagen, schließlich kannte ich es nicht anders. Manchmal war ich schon ein bisschen neidisch auf meine Freunde in der Schule, wenn sie von Unternehmungen mit ihrem Vater erzählten. Und wenn ich heute darüber nachdenke, kommt es mir schon so vor, als wenn mir in manchen Situationen ein väterliches, ein männliches Vorbild fehlt. Aber ich würde meiner Mutti daraus nie einen Vorwurf machen.«

 

Am darauffolgenden Wochenende war das Paar in Magdeburg bei Sarahs Eltern. Lukas verstand sich mit ihnen auf Anhieb. Sie waren ihm sehr sympathisch in ihrer offenen, freundlichen Art.

»Wir dürfen doch Lukas zu dir sagen? Ich bin Michael, meine Frau heißt Karin«, bot Sarahs Vater sehr bald das Du an. »Trotzdem möchte ich noch nach deinem Nachnamen fragen. Ich muss doch wissen, wie der Mann heißt, den sich meine Tochter ausgesucht hat.«

»Klar! Ich heiße Schultze, mit tz, Lukas Schultze.«

»Schultze mit tz. Das finde ich ja witzig. Ich hatte mal eine Freundin, sie betonte auch immer das mit tz. Na ja, bei diesem Allerweltsnamen muss man das wohl.«

»Finke ist ja nun auch kein seltener Name!«

»Da hast du vollkommen recht, Lukas mit tz«, witzelte Sarahs Vater.

Nach dem Kaffeetrinken bummelten die vier durch die Altstadt. Obwohl die Familie Finke erst vor etwa zehn Jahren von Würzburg nach Magdeburg gezogen war, präsentierten sie die neue Heimatstadt voller Stolz. Gern zeigten sie Lukas, was die Stadt so zu bieten hat. Sie besuchten den Dom mit dem Grab von Otto I., dem ersten römisch-deutschen Kaiser. Am Elbufer entlang, an dem im Mittelalter der Bürgermeister Otto von Guericke das berühmte Halbkugelexperiment zur Wirkung des Luftdrucks gezeigt hatte, ging es weiter zum schönen Elbauenpark. Lukas musste zugeben, dass er als Leipziger noch nie zuvor in Magdeburg war.

Karin, die mit ihrer Tochter im Park hinter den beiden Männern lief, befragte sie neugierig nach der Mutter von Lukas.

»Andrea ist eine sehr nette Frau. Ich glaube, sie hat mich in ihr Herz geschlossen und freut sich für ihren Sohn, dass er mich gefunden hat.«

»Du sagst Andrea zu ihr?«

»Ja, sie hat mir das Du angeboten wie ihr doch auch Lukas.«

»Gern! Etwas anderes, Sarah. Ist dir aufgefallen, dass dein Freund ein bisschen Papa ähnelt?«

»Ja, das habe ich ihm schon auf Mallorca gesagt. Vielleicht gefällt er mir deshalb so sehr.«

 

Die Nacht verbrachte das junge Paar im Zimmer von Sarah. Es wurde zwar etwas eng, aber es hatte für Sarah einen besonderen Reiz, ihren Freund im Bett ihrer Jugendträume zu umarmen.

Erst zum Mittagessen ließen sich die jungen Leute wieder sehen. Als Lukas auf Wunsch der Hausherrin ihr die Bratenplatte mit einem Lächeln herüberreichte, wurde ihr auf einmal ganz anders. Es war ihr, als hätte sie die Szene schon einmal erlebt. Sie starrte Lukas an und fragte sich, ob sie ihn irgendwie von früher kannte. Dem jungen Mann wurde schon der Arm schwer, da fragte sie rundheraus: »Sag mal, warst du schon einmal in Würzburg?« Dann merkte sie, dass das Unsinn war und sagte: »Vergiss es, ich bin ein bisschen durcheinander.«

Die Eltern ließen es sich nicht nehmen, das junge Paar am Nachmittag nach Halle zu fahren. »Die neunzig Kilometer sind doch keine Entfernung!«, betonte Michael. Sie wollten unbedingt die Wohnung kennenlernen.

»Das habt ihr euch sehr schön gemacht«, freute sich Karin, und Michael überraschte, wie vorher mit seiner Frau abgesprochen, das Paar mit der Zusicherung, die Miete für die Studenten zu übernehmen. Sarah und Lukas wussten gar nicht, wie sie den beiden danken sollten.

 

Auf der Rückfahrt fragte Karin ihren Mann: »Hast du mitbekommen, dass die Mutter von Lukas Andrea heißt? Hattest du nicht eine Andrea aus Leipzig als Freundin?«

»Na, und? Sogar eine Schultze mit tz. Leipzig ist eine Großstadt!«

»Ein seltsamer Zufall ist es trotzdem«, murmelte Karin in ihren nicht vorhandenen Bart.

In der Nacht hatte sie wirre Träume. Sie fühlte sich in die Jugendzeit versetzt. Es war Michael, der ihr ganz nahe kam, um sie zu küssen … Da verwandelte sich sein Gesicht plötzlich in das von Lukas.

 

Bald nach diesem Wochenende schlugen Sarahs Eltern vor, die Mutter von Lukas einzuladen, um sich gegenseitig kennenzulernen, wo sie nun doch praktisch eine Familie bildeten. So kam es, dass am vereinbarten Sonntagnachmittag Sarah und Lukas die Leipzigerin am Bahnhof abholten und in die Magdeburger Wohnung begleiteten.

Beim Blick aufs Klingelschild fragte Andrea, an Sarah gewandt: »Ihr heißt Finke?« Was für ein Zufall, dachte sie noch und dann stand sie im Wohnzimmer Michael gegenüber. »Du? Michael? Michael Finke? Ich dachte, du lebst in Würzburg?«

»Bist du es wirklich? Andrea? Du hast dich kaum verändert. Aber setzt euch doch alle erst einmal!«

Das unerwartete Wiedersehen nach über dreiundzwanzig Jahren führte zu einer lebhaften Unterhaltung, der die drei anderen interessiert folgten.

»Aber warum hast du dich, nachdem du mit deinen Eltern weggezogen bist, überhaupt nicht mehr gemeldet?«

»Ich habe versucht, dich zu vergessen. Wegen der Entfernung zwischen Würzburg und Leipzig sah ich für uns keine Chance. Du hast doch auch nichts mehr von dir hören lassen.«

»Ja, ich hatte Marco kennengelernt und mich mit ihm getröstet. Aber als ich dann schwanger wurde, ist er einfach verschwunden und hat mich sitzenlassen. Deswegen habe ich Lukas dann allein großgezogen. Mit einem solchen Schuft wollte ich nichts mehr zu tun haben.«

»Das tut mir leid. Da habe ich es besser getroffen. Ich verliebte mich in Karin. Wie du siehst, sind wir heute noch glücklich zusammen.«

»Was für ein Zufall, dass wir uns über unsere Kinder wiedergetroffen haben!«

 

In der darauffolgenden Nacht lag Karin lange wach. In ihrem Kopf arbeitete es, verrückte Gedanken kamen und vergingen wieder. Auf einmal beherrschte ein schrecklicher Verdacht ihr Denken …

Am Morgen recherchierte sie im Internet und tat dann das, was sie für notwendig hielt.

 

Nur zwei Wochen später hielt sie den Brief aus Kufstein in der Hand. Der ihren Verdacht bestätigte.

Sie rief Michael an und bat ihn, sofort von seiner Arbeit nach Hause zu kommen. Hier konfrontierte sie ihn mit der Tatsache, die aus dem Schreiben hervorging.

»Wir fahren jetzt sofort nach Leipzig. Das musst du mit deiner Andrea klären, das will ich jetzt genau wissen.« Klang da Eifersucht durch?

»Das ist nicht meine Andrea. Schon Jahrzehnte nicht mehr. Ich verstehe das gar nicht.« Michael sah ein, dass dringender Klärungsbedarf bestand. So setzten sie sich ins Auto und neunzig Minuten später klingelten sie bei Andrea Schultze.

Diese konnte das gar nicht fassen. Sie schaute immer abwechselnd Karin und Michael an und stammelte: »Aber … aber … wir haben doch damals, du erinnerst dich, Michael, nur ein einziges Mal …, zum Abschied …«

»Das spielt doch keine Rolle, wie oft …«, ging Karin etwas unwirsch dazwischen.

Andrea brach in Schluchzen aus, sie konnte sich gar nicht mehr beruhigen. »Das konnte ich doch nicht wissen. Mein ganzes Leben wäre wahrscheinlich ein anderes geworden.« Hemmungslos weinte sie weiter.

Dann raffte sie sich auf und flüsterte: »Aber wieso hast du …, Karin? Das ist doch illegal. Oder war Lukas einverstanden?«

»Du hast recht, Andrea. Es ist nicht erlaubt, sogar strafbar. Aber mit seiner Zahnbürste war es in Österreich möglich. Sollte ich unsere Kinder sehenden Auges weiter ins Unglück stürzen lassen?«

 

Gemeinsam fuhren die drei dann nach Halle und eröffneten den Kindern die kaum fassbare Nachricht. Karin übernahm das: »Wir haben eine schlechte und eine gute Nachricht für euch. Michael ist auch der Vater von Lukas. Ihr seid Geschwister, Halbgeschwister.«

Es dauerte eine Weile, dann schlug die Nachricht ein wie ein Blitz. Blankes Entsetzen war in den Gesichtern der Liebenden zu sehen. Sarah rannte ins Bad und schloss sich dort ein. Man konnte nur noch Wimmern hinter der Tür hören. Es dauerte Stunden, ehe sie überredet werden konnte, herauszukommen und mit ihren Eltern mitzufahren.

 

***

 

Der offizielle Vaterschaftstest wurde bald nachgeholt – mit demselben Ergebnis.

Zwei Jahre hatten Sarah und Lukas keinen Kontakt mehr. Aber dann trafen sie sich wieder und seitdem entwickelt sich ein freundschaftlich-geschwisterliches Verhältnis.

 

V1:  9796 Zeichen