Von Marianne Apfelstedt
Überrascht sehe ich mich um. Ich trete ins Innere des Bahnhofs. Wie komme ich hierher? Ich kann mich nicht erinnern, den Weg von der Klinik bis hierher zurückgelegt zu haben, und trotzdem bin ich wie üblich an der U-Bahn-Station angekommen, mit der ich nach der Arbeit nach Hause fahre. Die klammen Hände verweigern den Dienst, als ich die Bahn Card aus der Brieftasche ziehen möchte. Hatte ich nicht meine Handschuhe dabei? Dieser Weg hat sich in den vielen Jahren, seit ich in der Verwaltung des Krankenhauses arbeite, wohl unumstößlich in mein Unterbewusstsein eingegraben. Ein Trittsiegel des Alltags. Ich reibe die Hände aneinander und puste in die Handflächen. Nachdem die Karte endlich draußen ist, gewährt mir ein Piepton Zugang. Der Sommer ist so fern.
Nur wenige Menschen warten auf die nächste Bahn. Ich stehe mit gebührendem Abstand zu Ihnen, die Hände tief in den Taschen meines Daunenmantels vergraben auf dem Bahnsteig. Die Füße in den Stiefeln führen ein Eigenleben, wippen auf und ab. Auf der Bank vor der Anzeigetafel sitzt ein Pärchen eng umschlungen. Sie teilen sich Kopfhörer. Der modische Sneaker des Mädchens wackelt im Takt der eigenen Generation. Als der Junge sein Gesicht in ihrem Haar versteckt, durchbricht ihr Lachen die Stille. Unsere Blicke kreuzen sich. Herausforderung sticht Voyeurismus. Die geflieste Wand des Fahrbahntunnels erscheint plötzlich sehr viel interessanter. Wann habe ich das letzte Mal so gelacht?
Die Bahn kommt mit quietschenden Bremsen zum Stehen, ich steige in den vordersten Wagen ein. Am Eingang sitzt eine junge Frau mit blauem Hidschab, sie blickt gebannt auf ihr Handy. Beim Vorbeigehen bemerke ich die Instagram App. Moderne trifft Tradition. Einige Sitzbänke weiter rutsche ich auf das Polster und stelle meine Tasche neben mich auf die Bank. Trotz der Wärme lasse ich die Jacke an, weil die Kälte von draußen noch meine Glieder umklammert. Im Sitzen kann ich das Gesicht der Frau betrachten. Ein Julia-Roberts-Mund, von feinen Fältchen umrahmt, formt melodische Worte in fremder Sprache zur eingängigen Melodie. Die Türen schließen sich, ihr Blick fällt auf mich. Ich lächle zaghaft, als sich unsere Augen begegnen. Braune Augen mit getuschten Wimpern lächeln zurück, bevor sie sich wieder dem Bildschirm zuwenden. Werde ich im Sommer noch mit der Bahn fahren?
An der nächsten Haltestelle steigt ein Mann mit Gehstock und Lodenmantel zu. Schwer auf den Stock gestützt, schiebt er sich vorwärts, Reihe um Reihe. Als die Bahn anfährt, rutscht er direkt auf den Sitz hinter mir. Eine Mischung aus kaltem Zigarettenrauch und Frittierfett umhüllt mich. Ich atme flach. Schützend lege ich mir mein Handgelenk vor die Nase. Ein Hauch von Rose kämpft gegen den Geruch meines Hintermannes an. Werde ich einmal so alt werden wie er?
Fünf weitere Stationen bis zum Kieferngarten. Meine Augenlider klappen zu wie Rollladen zur Nacht, mühsam reiße ich sie immer wieder auf. Die Wärme lullt mich ein. Bäume und Häuser wischen in blassen Farben vorbei, begleitet vom ruckelnden Takt der Bahn. Heute will ich es wagen. Bevor die nächste Haltestelle erreicht ist, bewegt sich der Mann hinter mir, er kämpft sich wackelig dem Ausgang entgegen. Die kalte Luft wirbelt in das Abteil beim Öffnen der Türen. Der Mief steigt mit dem Alten auf den Bahnsteig. Meine Lider führen ein Eigenleben. Die Bahn fährt aus dem Licht in den Tunnel. Ich kämpfe darum, die Augen offenzulassen. Die Wände ziehen in Diastreifen an mir vorüber. Traumzeit.
Haltestellen unserer Kindheit. Wir beide im Kindergarten, mit Latzhosen und den gleichen Shirts. Du hattest Angst vor Blitz und Donner und in Gewitternächten kuschelten wir uns unter meiner Decke zusammen. Erster Schultag mit identischen Schultüten. Manchmal machten wir uns einen Spaß und tauschten die Rollen, ich wurde zu Lena und du zu Tina. Nur Mama und Papa konnten uns immer auseinanderhalten. Beide mit langen Haarmähnen und Zahnspangen. Geburtstagstorten im Duett mit sechzehn Kerzen. Glückliche Kindheit. Bis zu deinem ersten Krankenhausaufenthalt, dort entdeckten sie, dass du nur eine Niere hast. Ich blieb allein. Bei deiner Rückkehr blieb jedes Mal ein kleines Stück von dir in der Klinik zurück. Wir hörten CDs an, doch zum Tanzen warst du zu müde. Dein Lebenselixier regenerierte sich nicht mehr. Die eine Niere verweigerte den Dienst. Deine Chancen standen schlecht. Die Ärzte suchten nach einem Organ. Meines passte perfekt. Augen, fast schwarz, blickten mich fragend an aus einem Gesicht grau in Stein gemeißelt.
Ich erwache, als der Zug quietschend zum Stehen kommt, mit Tränen in den Augen. So real. Doch der Sitz neben mir bleibt leer, die Seelenfäden sind gekappt. Lange schon. Der Zug fährt in den Bahnhof ein. Mein Ziel, die kleine Wohnung nur wenige Schritte von der Haltestelle entfernt. Am liebsten würde ich aussteigen. Meine Hände verkrampfen sich, doch heute hält die Bahn nicht in der Sedanstraße, keiner drückt den roten Knopf neben der Tür. Mit jedem neuen Halt steigert sich meine Furcht.
Die Bahn steht an der Endstation. Gummifäden fesseln mich auf dem Sitz und Hitze steigt unter meinem Mantel bis zu den Wangen hoch. Mühsam stehe ich auf und verlasse das leere Abteil. Ich bin mir nur allzu bewusst, wohin mich mein Weg führen wird. Ich laufe das kurze Stück vom Bahnhof, die Allee entlang.
Lange Jahre war die Wut so groß. Alles hatte ich dir gegeben und du hast mich allein gelassen. Lagst kalt in deinem Sarg. Ich räumte alle Fotos weg, jedes Bild eine Nadel, die mich mitten ins Herz stach. In den Blicken von Mutter und Vater sah ich meinen Schmerz. Das ertrug ich nicht. Ich zog aus. In die Großstadt, wo Menschen nebeneinanderher leben. Anonym.
Die Brücken hinter mir brach ich ab, Neue aufzubauen wagte ich nicht. Ich vergrub mich in Arbeit, von Lena erzählte ich nie. Verbot mir sogar, an sie zu denken. Druck baute sich auf im Übermaß. Jahrelang unerkannt rauschte er durch meine Gefäße. Müdigkeit umklammerte mich und erste Tests zogen neue nach sich. Erst heute nach der endgültigen Diagnose der Ärztin, öffnete ich die Schublade mit den verschollenen Erinnerungen.
Erinnerungsbilder tauchen auf, werden mehr, mit jedem Schritt, den ich weiter gehe. Ein schmaler Steg Vergangenheit. Schneehaube auf den verwelkten Herbstastern. Sie sehen fast wie Mützen aus. Wir hatten immer die gleichen Wollmützen im Winter, mit einem Bommel dran. Fast kann ich mich an dein Lachen erinnern, wenn wir im Winter Schneekugeln gemeinsam durch den Garten rollten. Wir reihten die Kugeln aneinander für unsere Schneeschlange. Deine waren immer einen Ticken größer. Schneezauber. Ohne dich war mir der Schnee zu schmutzig und der Winter zu kalt. Mein Blick fällt auf den Marmor, der dunkel ist von geschmolzenem Schnee. Ich schlucke den Klos im Hals hinunter und meine Hände walken in den Manteltaschen. Meine Fußspitzen stehen direkt an deinem Grab. Schneeflocken streifen mein Gesicht, tauen zu Tränen.
„Hallo Lena. Ich war 20 Jahre nicht mehr hier. Meine versagt jetzt auch ihren Dienst, meine Lebenskraft schwindet, wie bei dir. Wenn sich bis zum Sommer kein Spender findet, werden wir wieder vereint sein.“
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