Von Robert Reitz
Sie wunderte sich, dass der Zug nicht anfing zu bremsen. Die Durchsage war schon eine Weile her, “nächster Halt Gladburg, Ausstieg in Fahrtrichtung rechts”.
Ihre Tasche geschultert, stand sie vor der Tür und wartete, schaute hinaus, doch schließlich, ohne eine Spur langsamer geworden zu sein, fuhr der Zug durch den Gladburger Bahnhof und dann weiter.
Amela erhaschte die Gestalt von Thilo, der auf dem Bahnsteig stand, hob die Hand, um ihm zuzuwinken; zwei Momente später war alles vorbeigeflogen und der Bahnsteig mitsamt Thilo wieder weg.
Sie wandte sich zurück in den Waggon, in dem sie gesessen hatte, und lief zu dem ersten der drei Mitreisenden – einem Mann im grauen Anzug, der auf der linken Seite sitzend mit seinem Laptop beschäftigt war.
Hatte sie etwas nicht mitbekommen? Möglicherweise eine Änderung im Fahrplan?
“Entschuldigen Sie bitte”, sagte sie.
Der Mann löste seinen Blick, langsam, vom Bildschirm.
“Hier hätten wir doch halten müssen, oder?”, fragte sie. “Gladburg.”
Der Mann schaute auf seine Armbanduhr. “Tut mir leid, ich steige erst in Trödlingen aus”, sagte er, senkte den Kopf und vertiefte sich wieder im Laptop.
Amela blickte sich um. Thilo kam ihr in den Sinn. Verdammt, er war heute gekommen, um sie abzuholen. Sie hatte ihn angerufen. Telefon, ja richtig. Wenigstens musste sie ihn benachrichtigen und ihm sagen, dass es ihr leidtat und sie nicht daran gedacht hatte, dass … das geschehen konnte.
Das Smartphone teilte ihr mit, dass die Verbindung fehlschlug, kein Netz. Sie verdrehte die Augen und biss sich auf die Hand.
Aber Thilo hatte ja gesehen, was passiert war … dass sie gar nicht aussteigen hatte können, weil … es schwierig war, aus einem fahrenden Zug zu springen – durch eine geschlossene Tür hindurch?
Wo nur war die Zugbegleiterin, die vor zwanzig Minuten die Fahrkarten kontrolliert hatte und nach vorn weitergegangen war? Amela fluchte, lief den Gang zurück nach vorn, da sprach die Frau sie an, die unweit des Verbindungsstücks am Fenster saß, mit einem Buch in der Hand.
“Warum regen Sie sich denn auf?”, sagte sie.
Amela blieb stehen. “Haben Sie es nicht mitbekommen? Der fährt durch, ich muss da aber raus.”
“Also bitte! Wo ist das ein Problem? Warum steigen Sie nicht einfach beim nächsten Halt aus und fahren zurück?”, sagte die Frau. “Statt hier zu schimpfen?”
“Der nächste Halt? – Wo ist der?”
“In wenigen Minuten”, sagte der Lautsprecher, “erreichen wir Holzenbach. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts. Wir haben derzeit eine Verspätung von vier Minuten. Alle Anschlusszüge können erreicht werden.”
Amela schaute auf den elektronischen Fahrtanzeiger über dem Durchgang in ihrem Rücken, um zu sehen, wann der Anschlusszug in Gegenrichtung nach Gladburg losfuhr – und von welchem Gleis. In neunzehn Minuten, Gleis 2.
“Entschuldigen Sie”, sagte sie zu der Frau vor sich. “Ich würde gern meinen Freund informieren. Der wartet in Gladburg. Was ich machen soll … oder vielleicht kann er mich auch dort abholen, aber mein Handy hat kein Netz. Ich dürfte nicht vielleicht Ihres benutzen?”
Die Frau seufzte, legte ihr Buch in den Schoß und kramte in ihrem Rucksack. Sie fischte ihr Telefon heraus und schüttelte nach einem Blick darauf den Kopf. “Nein. Ich habe auch kein Netz. Seltsam, ich habe hier immer Netz … sonst.”
Amela wandte sich um, blickte hinaus und sah, wie Holzenbach auftauchte.
Sie beeilte sich, zum Ausstieg zu kommen, ohne sich zu verabschieden, die Tasche immer noch geschultert, stand schon davor, als ein sonderbares Gefühl in ihrer Brust entstand; sie forschte in sich, wollte wissen, woher das kam, und mit einem Mal …
Der Zug, dachte sie. Er bremst nicht. Er müsste bremsen. Er bremst wieder nicht. Sie blickte zurück zu den anderen, dann zum Fenster in der Tür hinaus und sah, wie der Bahnsteig von Holzenbach vorbeirauschte; mehrere Leute wischten durch ihr Sichtfeld. Wenige Sekunden später ging es wieder durch Felder und Wiesen, einzelne Häuser zogen vorbei, eine Straße, Schafe an einem Bach, ein Bahnübergang.
Amela stand einige Momente bewegungslos. Nein.
Dann drehte sie sich zu den anderen um. “Seht ihr das?”, rief sie. “Der fährt einfach durch! Tschack, durch! Da stimmt doch was nicht, da …”
“Was soll denn da nicht stimmen?”, sagte die Frau mit dem Buch und hob den Kopf.
“Er hält nicht, der verdammte Zug, er …”
“Wenn etwas nicht stimmen sollte, also etwas wäre, dann würde doch eine Durchsage kommen; vom Zugpersonal.” Sie erhob sich, streckte sich, setzte sich wieder. “Oder vielleicht ist irgendwo ein Unfall oder Ähnliches – weshalb wir nicht haltmachen konnten.”
“Aber …”
“Nur weil die Bahn ein mal nicht haltgemacht hat, heißt das nicht, dass …”
“Zwei mal!”, rief Amela. “Zwei mal.”
Die Frauen starrten sich an, aber keine sagte weiter etwas. Dann ging ein Ruck durch Amela, sie lief zum dritten Fahrgast im Waggon, einem Mann in Jeans, Anfang zwanzig, der Kopfhörer trug und sich offensichtlich Musik anhörte. Sie tippte ihn an, er schaute hoch, nahm die Stöpsel aus den Ohren und sagte, noch bevor sie ihn ansprechen konnte: “Verpiss dich, du nervst.”
Dann steckte er sich die Stöpsel zurück in die Ohren und schloss die Augen wieder.
“Wir erreichen in Kürze Griegstein. Ausstieg in Fahrtrichtung links. Augenblicklich haben wir eine Verspätung von drei Minuten. Alle Anschlusszüge können erreicht werden.”
“Ja ja”, murmelte Amela und rannte erneut zum Ausstieg vorne. Ihr Schritt klang entschlossen und sie wurde laut: “Ich will jetzt raus hier! Ich zieh die Notbremse! Keine Ahnung, was los ist, aber ich will, dass …”
“Was?” Der Mann im Anzug erhob sich von seinem Platz und kam auf sie zu. Er fuchtelte mit beiden Armen. “Auf keinen Fall. Das machen Sie nicht! Das ist verboten. Das ist nur in einem Notfall erlaubt. Ein Notfall liegt hier nicht vor, das …”
“Das interessiert mich einen verdammten Scheiß!”, erwiderte Amela und griff nach dem roten Abzug.
“Wissen Sie, was dann passiert? Wie lange wir dann stehen bleiben? Gehen Sie da weg, oder … !”
Griegstein kam in Sicht. Und sie fuhren; fuhren mit unverminderter Geschwindigkeit auf Griegstein zu, registrierte Amela. “Na?”, rief sie. “Was? Was jetzt?”
Der Mann öffnete den Mund, dann zog sie am Griff der Notbremse, mit einem Ruck, so stark sie konnte. Es geschah … nichts. Nicht nach zwei Sekunden, nicht nach fünf, nicht nach acht.
Der Mann im Anzug schien zufrieden und begab sich zu seinem Sitz zurück. Amela starrte ihm nach. Er setzte sich; platzierte das Laptop auf seinen Beinen. Das sonderbare Gefühl kroch aus ihrer Brust hoch zum Hals, auf dem Weg in ihren Kopf.
Aus dem vorderen Wagen tauchte die Zugbegleiterin auf, in Blau und Weiß gekleidet. Amela stürzte sich auf sie. “Was ist los? Warum halten wir nirgends?”
“Nächster planmäßiger Halt ist Almberg”, sagte die Zugbegleiterin und lächelte.
“Aber in Gladburg hat er nicht gehalten, da hätte ich …”
“In seltenen Fällen kann es schon mal passieren, dass der Halt an einer einzelnen Station entfällt; wenn Gründe vorliegen; da haben wir keinen Einfluss darauf”, sagte sie. “In solchen Fällen werden die Fahrgäste stets informiert und in Kenntnis gesetzt, welche alternativen Verbindungen es gibt, um an den gewünschten Zielbahnhof zu gelangen.”
“Aber …”
“Nächster Halt ist in Almberg, danach kommen Harthausen und Milbertshofen. – Wohin wollen Sie denn?”
“Ich will zum Zugführer”, sagte Amela.
“Einen Zugführer gibt es nicht an Bord”, antwortete die Zugbegleiterin. “Entschuldigen Sie. Womit kann ich Ihnen sonst behilflich sein?”
Amela hob ihre Arme. “Ich …” Sie stockte.
Die Zugbegleiterin wandte sich ab, wollte weiter; Amela packte ihren Arm; die Festgehaltene versuchte im Reflex, sich freizumachen, doch Amela ließ nicht los und es entstand eine Rangelei, bis …
“Lassen Sie doch die Frau in Ruhe!”, hörte Amela den Mann im Anzug rufen. “Sie verursachen nichts als Ärger und bringen am Ende noch alles durcheinander … Sie sind schuld daran, wenn …” Er war aufgestanden, doch stockte, denn die Frau in Blauweiß hatte sich jetzt losgemacht und eilte keuchend in die Richtung davon, aus der sie gekommen war. Amela stand im Durchgang, als hätte sie sich in einen Baum verwandelt.
“Wir erreichen in Kürze Almberg. Ausstieg in Fahrtrichtung rechts. Wir haben zurzeit eine Verspätung von vier Minuten. Alle Anschlusszüge werden erreicht.”
Amela bewegte vorsichtig ihre Arme, dann die Beine; sie schaute sich um, nach vorn, nach hinten; keiner der anderen Fahrgäste beachtete sie, keiner schaute in ihre Richtung; der Mann im Anzug hatte sich wieder in sein Laptop vertieft, die Frau las im Buch, der junge Mann saß mit geschlossenen Augen auf seinem Platz.
Amela lachte laut auf. Sie ließ ihre Tasche fallen – zu sperrig – und eilte der Blauweißen hinterher.
*
Bernd hob den Blick vom Laptop, als die Zugbegleiterin im Wagen auftauchte und den Gang entlangkam; sie lächelte ihm zu, was er erwiderte.
Als sie an ihm vorbei war, blickte er sehr kurz durch das Fenster, dann wieder auf den Bildschirm. Seine Fahrkarte hatte sie längst gesehen, es war demnach alles in Ordnung.
Der Zug durchquerte, ohne anzuhalten, den Bahnhof von Almberg.
–
Version 3; 26. Oktober