Von Simone Tröger
… während ich vom Sitz fiel, weil die Ping-Pong-Spieler in meinem Kopf ihr Spiel jetzt zu einem immerwährend drehenden Glücksrad gemacht hatten. Nur war das kein Glücksrad, sondern die Spirale zur Hölle. Auf dem Weg dahin wurde es immer dunkler.
*
Heftige Kopfschmerzen bei der Arbeit bereiteten mir Konzentrationsprobleme. Meine Arbeit war im Büro eines Wirtschaftsunternehmens. Dort fungierte ich, sozusagen, als „Mädchen für (fast) alles“. Als Sekretärin des Chefs war ich seit vier Jahren hier tätig.
Den Schwindel mit den Kopfschmerzen hatte ich mindestens doppelt so lange, kannte die Symptome, also machte ich mir keine großen Sorgen um mich.
Wollte ich doch alles zur Zufriedenheit des Bosses erledigen. Einzig Mia, meine direkte Kollegin, die gerade am Gehen war, meinte „Mach nicht mehr so lange, du siehst aus, als kippst du jeden Moment vom Stuhl.“ „Ach, mein übliches Dilemma. Man ist doch dran gewöhnt. Wie immer, nehme ich die Bahn um 16.23 Uhr“, tat ich es mit einer abwehrenden Handbewegung ab. Mia ging aus der Tür „Bis morgen, ciao!“
Jetzt meldete sich auch noch mein Darm. Durchfall war neue Erscheinung. Wie komme ich jetzt zum Klo? Zum Glück schaute Charlotte gerade ins Postfach in meinem Büro.
„Charlotte? Kannst du mir bitte zum Klo helfen? Mir ist so sehr schwindelig!“
„Na klar! Ist wohl heute wieder besonders schlimm? Ich warte dann vor der Klotür auf dich. Mach dich bemerkbar, wenn ich dir zurückhelfen kann.“
Wie froh war ich, hilfsbereite Kollegen zu haben.
Zurück in meinem, jetzt einsamen, Bürozimmer, sah ich einen Papierstapel, der vorhin noch nicht dalag, dazu ein Zettel, „Bis morgen, 8.00 Uhr übertragen, wie es dasteht; I. 50.“
Na großartig! Der Chef! „Bitte“ hätte er wenigstens schreiben können. Zum Glück dauerte solch eine Arbeit nicht ewig, also schaffte ich meinen Zug.
Mein Mann Udo und ich hatten meine Schwiegereltern heute zu uns eingeladen. Udo ist der attraktivste, gebildetste, geduldigste Mann im Universum. Er ist mindestens genauso perfekt, wie die Schauspieler in den „Rosamunde-Pilcher-Filmen“.
Wenn mir nicht unwohl wäre, würde ich über meine eigenen Gedanken lachen.
Da sich Udo um alles kümmern wollte, sagte den Schwiegereltern nicht ab. Mein Mann kochte leidenschaftlich gern und gut, so dass ich die Überraschung mit den Leckereien kaum selbst abwarten konnte. Die wilden Tiere in meinem Kopf schienen mir einen Strich durch die Rechnung zu machen. Sie kämpften weiterhin um den vordersten Platz im Rudel. Lust auf Essen verspürte ich nicht.
Nun regnete es auch noch – nein. Nicht noch einen Schirm… Die Hände brauche ich zum Festhalten… und Verspätung konnte ich nicht brauchen.
Die Arbeit ließ sich dank der Rotoren, die meinen Kopf belagerten, nicht im Handumdrehen erledigen. Aber als der unsichtbare Pinsel draußen eine bläuliche Farbe am Himmel kreierte, beschloss ich, den Computer auszuschalten und mich auf den Weg zu machen. Getan war die Arbeit allemal. Glücklicherweise gluckste mein Magen nicht mehr.
Sogar noch etwas Zeit hatte ich bis zur Abfahrt der Bahn. Langsam laufend und immer etwas zum Anhalten in der Nähe suchend bog ich zum Blumengeschäft ab. Nur was kauft man im Herbst? Meiner Schwiegermutter eine kleine Aufmerksamkeit mitzubringen – dazu fühlte ich mich animiert. Schließlich taten sie auch alles für ihren Sohn und seine Frau.
Diese rosa blühende Dings-Da sieht doch aus wie ein Traum. „Das ist eine Chrysantheme“. Die Verkäuferin kam sich vor wie eine Lehrerin, die ihrer Schülerin etwas erklären konnte. Das sah ich an ihrer Haltung. Ihr Torso war jetzt doppelt so groß wie vorher.
Jetzt auf direktem Weg zum Bahnhof!
Wie gut, dass mein Zug eben einfuhr. So hatte ich keine Wartezeit mit „Ringel-Ringel-Reihe“ im Kopf zu überbrücken.
Vorsichtig stieg ich in die Bahn und fand sofort einen Sitzplatz. Besser konnte das nicht laufen.
Schwiegermutters Chrysantheme hielt ich sorgsam in einer Hand, mit der anderen hielt ich mich an der Haltestange neben meinem Sitzplatz.
Der Zug schaukelte vor sich hin, was den Wellengang in meinem Kopf nicht besser machte.
Der Herr, der mir im Zug gegenübersaß, riss mich aus den Gedanken, weil er hustete, als würde sein Hals mit einer Kettensäge durchtrennt. Stille; dann ging es wieder los; man stieß auf ein Hindernis; Stille; weiter jetzt.
Durch sein Husten hörte ich „Notbremse!“
Der Blumentopf fiel.
Der Übertopf zerbrach.
Der Zug hielt.
… während ich vom Sitz fiel, weil die Ping-Pong-Spieler in meinem Kopf ihr Spiel jetzt zu einem immerwährend drehenden Glücksrad gemacht hatten. Nur war das kein Glücksrad, sondern die Spirale zur Hölle. Auf dem Weg dahin wurde es immer dunkler.
*
Im Ambulanzwagen kam ich wieder zu mir.
Die Rettungssanitäter sagten mir, in welches Krankenhaus sie mich brächten und fragten, ob sie jemanden benachrichtigen sollten.
„Natürlich, meinen Mann!“
So großartig, wie in dem Moment im Krankenwagen, fühlte ich mich bisher an diesem Tag in keiner Minute.
In der Klinik teilte ich mir ein Zimmer mit einer älteren Dame, die vergessen hatte, dass man mit dem Mund Worte formen kann. Es war ihr nicht mehr möglich, zu sprechen. Hier war die stroke-unit. Seltsame Dinge gingen auf dieser Station bei jeder Menschenseele um. Warum auch immer ich hier war?!
Nicht lange nach meiner Einlieferung sprach der Arzt mit mir über anstehende Untersuchungen.
Er staunte allerdings nicht schlecht, dass ich aus dem Bett hüpfte, um ihm zu zeigen, wie gut es mir ging. „Gibt es Abendessen für mich, ich verhungere!“ Selbst mir war das suspekt.
Doch zunächst stand der Gang, beziehungsweise, die Fahrt im Rollstuhl, zum Neurologen an. Man schob mich in das MRT. „Ohne Auffälligkeiten.“
Im Hintergrund flüsterten verschiedene Ärzte miteinander. Jetzt bekam ich Angst. War das „ohne Auffälligkeiten“ eine Lüge?
„Frau Werner? Wir machen noch ein EKG, nehmen Blut, und Urin geben Sie auch noch ab!“
Dann brachte mich die Krankenschwester im Rollstuhl zum Untersuchungsraum.
Zurück im Zimmer erwartete mich mein sehr aufgeregter besorgter Mann, der mir zunächst diesen Ort als meinen Aufenthaltsort erläuterte., da ich dem Herrn mir gegenüber im Zug in die Arme rutschte als ich vom Sitz fiel. Der Zug wurde zur Notbremsung gezwungen und ein Krankenwagen gerufen.
Den Rest wusste ich selbst.
Endlich kam der Pfleger mit dem Tablett Abendessen herein. Darauf wartete ich, und ich stürzte mich auf das wenig schmackhafte Mahl. Eigentlich war heute etwas Kulinarischeres angedacht, wäre ich aber nicht hier, brächte ich vermutlich nichts hinunter, weil jede der zwei Banden in meinem Kopf versuchte, den Kampf zu gewinnen.
Beim Hinausgehen fügte der Pfleger noch hinzu, dass ich um 7.00 Uhr am nächsten Tag einen Arzttermin hätte.
„Oh; mein Gott, um 7.00 Uhr? Das muss etwas Ernstes sein, wenn das so zeitig ist. Vielleicht wird mir um 9.00 Uhr ein Tumor entfernt?“
Hilflos saßen mein Mann und ich da, schlaflos war diese Nacht für uns beide.
„Frau Werner, ich hole Sie jetzt zum Arzttermin!“ Die Krankenschwester verfrachtete mich in den Rollstuhl, als könnte ich mich allein nicht hinsetzen. Meine Angst war mindestens so groß wie das Empire State Building.
„Guten Morgen, Herr Doktor!“
„Guten Morgen, Frau Werner!
Abschließende Ergebnisse liegen noch nicht vor, und deshalb behalte ich Sie noch einige Tage hier.“ Er erläuterte mir Therapiemöglichkeiten und Hilfen für meine langjährigen Symptome. Allerdings war ich nach dieser Zeit selbst „Spezialist“. Nichts war mir neu.
Am Ende des Gespräches sagte er mit ernster Miene nahezu beiläufig „Herzlichen Glückwunsch zur Schwangerschaft. Sie sind in der 8. Woche!“
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